Zur Entstehung von ethnischen Konflikten

Und die Reichspogromnacht von 1938 wurde auch durch das Attentat eines 17-jährigen Juden auf einen deutschen Diplomaten in Paris ausgelöst. Und hier wie dort beteiligten sich auch ganz normale Bürger an den Zerstörungen und Plünderungen.

Da dürftest du der NS-Propaganda aufgesssen sein.

Das Attentat von Herschel Grynszpan in Paris und dem Tod von Ernst vom Rath kam der NS-Führung sehr gelegen denn die Parteibasis war unzufrieden. Göbbels und Dierwerge nutzten dies aus und verbreiteten die Verschwörung das Grynszpan im Auftrag des Weltjudentums gehandelt habe.

Dazu sollten wir aber doch ein neues Thema eröffnen.
 
Sind wir hier eigentlich nicht, wir sind hier in inem Faden über die Entstehung von ethnischen Konflikten.
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Und weil wir hier in einem Faden über die Macht der Kirche sind,
jetzt lass' ihn doch Saladette sagen, wenn er Sinfonie meint
(Hans-Dieter Hüsch)
:D
 
Weil sich gleich zwei Mitdiskutanten auf meine Verwechslung der Fäden stürzten (in Ermangelung echter Argumente?), muss ich sofort antworten: Das hat man davon, wenn man in zwei Fäden gleichzeitig aktiv ist - ich bitte um Entschuldigung.

Und weil ich gerade dabei bin: Deinen Beitrag #18 @Shinigami, unterschreibe ich sofort – habe das Geschriebene auch nie in Abrede gestellt.

Dass Bildung wichtig für die Juden war und ist – wir haben eine jüdische Familie als unmittelbare Nachbarn, die einen unheimlichen Druck auf ihre Kinder erzeugten, gut in der Schule zu sein –, ist Juden im 19. und 20. Jahrhundert, als Bildung zum Geldwertenvorteil wurde, zum Verhängnis geworden, wie vorher die Geldgeschäfte, zu denen sie gezwungen wurden, weil ihnen alle anderen Berufe durch Satzungen der Zünfte (sie nahmen nur Christen auf) verboten waren.

Eine der treibenden Kräfte für Pogrome war in beiden Fällen Neid - für Christen eine der 7 Todsünden.
 
Dass Bildung wichtig für die Juden war und ist – wir haben eine jüdische Familie als unmittelbare Nachbarn, die einen unheimlichen Druck auf ihre Kinder erzeugten, gut in der Schule zu sein –, ist Juden im 19. und 20. Jahrhundert, als Bildung zum Geldwertenvorteil wurde, zum Verhängnis geworden
...ich staune: du weißt so viel über Bildung im 19. Jh. ... Wer hatte denn so alles Zugang zu "Bildung"? Welches Verhängnis brach über Felix Mendelssohn oder Harry Heine herein? Beide waren sehr gebildet! Beide entstammten weder dem Adel noch "der Kirche".

Ich stoppe das, damit sich kein unnützes Schwadronieren ausbreitet, mit dem Hinweis, dich erst einmal gründlich in Sozialhistorie etc. des 19.Jhs. einzulesen.
 
Dass Bildung wichtig für die Juden war und ist – wir haben eine jüdische Familie als unmittelbare Nachbarn, die einen unheimlichen Druck auf ihre Kinder erzeugten, gut in der Schule zu sein –, ist Juden im 19. und 20. Jahrhundert, als Bildung zum Geldwertenvorteil wurde, zum Verhängnis geworden, wie vorher die Geldgeschäfte, zu denen sie gezwungen wurden, weil ihnen alle anderen Berufe durch Satzungen der Zünfte (sie nahmen nur Christen auf) verboten waren.

Eine der treibenden Kräfte für Pogrome war in beiden Fällen Neid - für Christen eine der 7 Todsünden.

Ich würde auch mit dieser Darstellung nicht unbedingt konform gehen wollen.


Die Mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Pogrome (ich rede jetzt von den spontanenn Gewaltaktionen aus der Bevölkerung heraus, nicht von durch die Obrigkeit geplanten Vertreibungsaktionen, wie es sie in England oder auf der iberischen Halbinsel gegben hat), korrespondierten in der Regel mit realen Katastrophenphänomenen (Seuchen, Missernten) oder besonderen Formen religiösen Eifers (wie etwa im Zusammenhang mit den Kreuzzügen im Rheinland, Ritualmordlegende).
Für verzweifelte Schuldner, die durch die Verteibung oder Ermordung ihrer Gläubiger einen Ausweg aus der eigenen Miesere sahen, mag das ein Grund gewesen sein, sich an solchen Gewaltausbrüchen kalkuliert zu beteiligen.

Und sicherlich haben die Kreditgeschäfte, die viele Juden (bei weitem nicht alle, auch wenn sie weder Land besitzen, noch zünftige Handwerker werden durften, was im Übrigen nicht auf jedes Gewerbe zutrifft, gab es durchaus andere Möglichkeiten sich zu verdingen, bei weitem nicht jeder Jude war Geldverleiher) betrieben sie bei Teilen der Bevölkerung neben der religiösen Anderartigkeit unbeliebt gemacht.
Wobei man hier religiöses und wirtschaftlichs Motiv nicht ganz klar trennen kann, weil das christliche Zinsverbot ja durchaus auch eine religiöse Komponente war, die da mitspielte.

Es dürfte allerdings, den meisten Zeitgenossen des Mittelalters und der frühen Neuzeit durchaus aufgefallen und bekannt gewesen sein, dass nur ein Teil der jüdischen Bevölkerung Geldverleih und verwandte Geschäfte betrieb und nur ein geringer Teil davon tatsächlich so erfolgreich wurde, dass er in der Lage war in irgendeiner Form beneidenswerten Reichtum anzuhäufen.
Die tatsächlich großen Player im Bankengeschäft würden spätestens ab dem Spätmittelalter Bankiers und Handelsherren, wie die Fugger oder die Medici. Das waren keine Juden, sondern christliche Geschäftsleute)

Die meisten jüdischen Geldverleiher blieben auf Geschäfte mit Kleinkrediten berschränkt, mit denen sie zwar über die Runden kommen, in der Regel allerdings keinen exorbitanten Reichtum anhäufen konnten.

Die Geldgeschäfte oder Gewinne daraus wird man nicht als Auslöser für die mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Pogrome betrachten können (jedenfalls in aller Regel nicht).
Wäre das auslösende Motiv dass die Handelnden leitete hier reiner Sozialneid auf angehäuften Reichtum, Verzweiflung mit dem Rücken zur Wand stehender Schuldner oder religiöse Ressentiments wegen des Zinsverbots gewesen, dann wären den Pogromen nicht auch Juden zum Opfer gefallen, die mit Geldegschäften in ihrem Leben noch nie etwas zu tun gehabt hatten und die in Teilen offensichtlich zu den verarmten städtischen Unterschichten gehörten, sich z.B. als Tagelöhner verdingten und weder materiell etwas hatten, auf das man neidisch hätte sein können, noch einer Tätigkeit nachgingen, die aus religiösen Gründen als geächtet galt.

Übrigens, wenn der Auslöser für Pogrome die Tätigkeit des Geldverleihens, Gewinne daraus, oder Schulden gewesen wäre, hätte es auch christliche Geldverleiher treffen müssen, Seit dem Spätmittelalter waren verstärkt auch "lombardische Geldverleiher/Bankies" in dieses Geschäft eingestigen, weil die sich für das Zinsverbot nicht mehr interessierten, spätestens ab dem Ende des Mittelalters und dem Beginn der Neuzeit wird man sagen können, dass sich das mit dem Zinsverbot sukzessive erledigt hatte und allerorten in Europa christlich Akteure ins Bank- und Finanzwesen einstigen.
Damit taten jüdische Geldverleiher im Grunde nichts exklusives mehr was sich in irgendwie anstößiger Weise von ihren Christlichen Kollegen abgehoben hätte, Pogrome fanden allerdings weiterhin statt.

Ich würde konstatieren wollen, dass Mittelalterliche und frühneuzeitliche Pogrome kein Sozialneid-Phänomen waren, dagegen spricht schon, dass es Personen traf, die offensichtlich sozial nicht zu beneiden waren, weil sie nicht nur im Hinblick auf den sozialen Status, sondern auch materiell den Unterschichten angehörten, sondern dass das in der Regel mit Katastrophenereignissen korrespondierte, derer es reichlich gab, die sich die Bevölkerung nicht erklären konnte und für die irgendein Verantwortlicher gesucht wurde.
Dabei ist meiner Meinung nach in Rechung zu stellen, dass das keine reine Suche nach Sündenböcken und Taten aus persönlichen Rachemotiven ex-post war, sondern, dass die Akteure sich oft innerhalb eines Katastrophenzustands befanden und neben dem Bedürfnis nach Vergeltung vor allen Dingen auch Angst vor dem, was da möglicherweise noch kommen würde, wenn man Verantwortliche (bzw. solche, die man dafür hielt) nicht ausmachen konnte.

Und das unterscheidet den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judenhass und die daraus resultierenden Pogrome ganz massiv von dem, was ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts passierte.


Die europäischen Gesellschaften am Ende des 19. Jahrhunderts und am Beginn des 20. Jahrhunderts waren post-aufklärerische Aufstiegsgesellschaften, die im Grunde keine Katastrophen alteuropäischen Ausmaßes mehr erlebten.
Seit den "hungry fourties" hatte es bis zum 1. Weltkrieg (ich klammere die Zwischenkriegszeit in Europa jetzt bewusst aus, weil da, wie @silesia richtig anmerkte noch andere Faktoren eine Rolle spielten) keine Versorgungsprobleme der Bevölkerungen mehr gegeben, die für größere Bevölkerungsgruppen tatsächlich existenzgefährdend gewesen wären.
Die Lebensmittelpreise fielen sukzessive immer weiter, durch verbesserte Anbaumethoden und der Bau von Eisenbahnen, Kanälen, gut ausgebauten Chauseén ermöglichte es mittlerweile lokale Verknappungen durch Zulieferung von Überschüssen aus anderen Gebieten Engpässe zu bezahlbaren Preisen zu überbrücken, so dass weder unzureichende Produktion, noch Spekulation und Preistreibere bei Lebensmitteln durch Zurückhalten von Teilen der Ernte durch die Bauern mehr eine Bedrohung darstellte.

Seuchen waren durchaus nicht ausgerottet, Europa wurde bis zum 1. Weltkrieg immer wieder von der Cholera und anderen Krankheiten betroffen, aber man wusste mittlerweile um Krankheitserreger und hielt dass nicht mehr für eine göttliche Strafe oder das diabolische Werk irgendwelcher sinistrer Gruppen.
Die mehr oder weniger weitgehende Ausrottung der Pocken hatte ein Beispiel geliefert, dass man Krankheiten duchaus beikommen konnte, so dass sie weniger problematisch waren und gerade seit der Jahrhundertwende machte neben der Medizin auch die chemische Industrie, große Fortschritte, so dass Medikamente in immer größerem Stil produziert werden konnten und immer erschwinglicher waren.

Man hatte inzwischen auch die hygienischen Probleme in den Städten erkannt und begonen große Teile der verbauten, engen historischen Bausubstanz durch Bauten zu ersetzen, die diesen Problemen wenigstens teilweise Abhalf (auch wenn die Mietskasernen in einigen Großstädten nach wie vor ein Problem waren, aber auch von diesen ging man zunehmend ab), man arbeitete daran, die Wasserversorgung zu überarbeiten und vor allem auch Kanäle zu bauen und die Abfall- und Abwasser-Entsorgung der Städte zu verbessern.

Am Ende des 19. Jahrhunderts ging es mit den Löhnen der arbeitenden Bevölkerung im Besonderen der Industriearbeiterschaft bergauf, Kinderarbeit war in ihren schlimmsten Formen abgeschafft oder stark reguliert, es gab erste gesetzliche Initiativen, die auf den Aufbau eines modernen Sozialstaates hinausliefen, die Bevölkeerung war weitgehend alphabetisiert und konnte bei den Problemen, die sie hatte nunmehr auf das Wissen der Bibliotheken zurückgreifen, es gab weitgehende Rechtssicherheit, es gab soziale Aufstiegsmöglichkeiten zunehmend auch für Personen, die nicht aus den traditionellen Oberschichten kamen, Europa (abgesehen vom Russland, vom Osmanischen Reich und vom Balkan), hatte am Ende des 19. Jahrhunderts drei Dekaden des Friedens hinter sich, eine vergleichsweise lange Zeit, der noch anderthalb Jahrzehnte des Friedens folgen sollten.

Ohne die gesellschaftlichen Zustände am Ende des ausgehenden und am Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa glorifizieren zu wollen, diese Gesellschaften hatten keine existenzbedrohenden Probleme mehr.
Eigentlich ging es gesamtgesellschaftlich überall vorwärts.
Natürlich gab es gab es auch Verlierer dieser Umwälzung. Kleinbauern und kleine Handwerker, die mit den Produktionsmethoden der neuen Industrien und der Großlandwirtschaft und der ausländischen Konkurrenz (vor allem Landwirtschaft) nicht mithalten konnten.
Adlige, die nicht begreifen konnten, dass Abstammung und Landbesitz nicht länger die allein dominierenden Krieterien waren, wenn es um Sozialprestige und politische Möglichkeeiten ging oder die verarmten, weil sie es nicht verstanden ihre Ländereien nach kommerziell-kapitalistischen Gesichtspunkten zu bewirtschaften etc.

Aber für die Gesellschaften an und für sich, lief alles aus weitere Verbesserungen hinaus. Um so unbegreiflicher, der (in Teilen absurde) Kulturpessiemismus, der sich bei den radikalen Nationalisten und sich formierenden Antisemiten bahnbrach und der mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung wirklich nichts zu tun hatte.
 
Die Akteure des Mittelalters, im Bezug und Judenhass und Pogrome aggierten vor dem Hintergrund realer einschneidender Ereignisse, die sie sich nicht erklären konnten, was beim damaligen Stand der Erkenntnis auf diversen Feldern durchaus nicht an Unwillen liegt, sondern daran, dass Schlüsselentdeckungen erst später gemacht wurden.
Und als das passierte und sich die Lage insgesamt besserte (seit der zweiten Hälfte dees 18. jahrhunderts, mit Unterbrechungen, duch gelegentliche schlechte Ernten etc.) stieg auch die Bereitschaft, Juden zunehmend nicht mehr rechtlich zu diskriminieren und sie entsprechend der christlichen Bevölkerung zu behandeln.
Das fiel ja im ausgehenden 18. und beginneden 19. Jahrhundert als Idee nicht ad hoc vom Himmel.
Die ganze europäische Philosophie, die sich an Naturrechtsvorstellungen arbarbeitete, für die Stand, Ansehen und Religion einer Person im Bezug auf grundleegende Rechte keine Kategorien mehr waren, nahm das im Grunde vorweg.

Die meisten Akteure des aufkommenden modernen Antisemitismus, handelten nicht korresponiderend mit irgendwelchen Katastrophen und sonstigen einschneidenden Ereignissen,* sondern sie neigten dazu Katastrophal Entwicklungen und Verschwörungen an die Wand zu malen, wo tatsächlich nicht die Spur davon zu finden war.
Das taten sie nicht nicht in reaktion auf Katastrophenereignisse, sondern in Permanenz und unter sich stetig bessernden Lebensbeedingungen.
Hier, war Sozialneid als maßgebliche Triebfeder am Werk,, weil andere schnellere und steilere Karrieren hinlegten, als der Antisemit selbst oder weil er nicht darüber hinweg kam, dass sein Stand, seine familie oder Berufsgruppe unter den neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen an Ansehen und Einfluss verlor und es keine Privilegien mehr gab, die ihn davor schützten.
Der Judenhass seit dem ausgehnden 19. jahrhundert, richtete sich nicht, gegen Personen, die aus primär religiösen Motiven heraus, als sich ungebührlich verhaltend wahrgenommen wurden.
Und er richtete sich anders als im Mittelalter in der Regel auch nicht mehr gegen Personen, die man für irgendwelche sonst nicht erklärbaren Katastrophen verantwortlich machte (Katastrophen kamen kaum noch vor und die, die es gab, konnte man mittlerweile erklären).
Diese Form des Judenhasses richtete sich vor allem gegen missliebige Konkurrenten und nicht, weil sie irgendwas ungebührliches taten, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie vorhanden waren.

Und aus diesem Grund, korrespondiert, dises neuerliche Aufkommen des Judenhasses auch mit dem Wechsel des paradigmas hin vom religiös verbrämten Antijudaismus hin zum modernen Antisemitismus:

Die Anhänger solcher Vorstellungen suchten keine Gründe mehr, für Katastrophen oder Anlässe ihnen aus anderen Gründen (religiös/ethisch) missliebiges Verhalten anprangern zu können, wenn solches vorkam, sondern sie hatten das Bedürfnis, Personen unterzubuttern oder loszuwerden, weil sie einfach da waren und das eigene Vorwärtsstreben (vermeintlich) störten oder vermeintlich legitim Privilegien durch ihre (wissnschaftlichen/ökonomsichen)Fähigkeiten und Bildungsressourcen beedrohten.


Das ist für mich fundamentaler Unterschied.
Und ein weiteres Argument dafür, eine Kontinuität zwischen dem Antijudaismus des Mittelalters und dem, was nach dem 1. Weltkrieg in seinen extremsten Ausmaßen passierte eher zu negieren.

Nicht nur das Feindbild war durch die Ablösung des religiösen Paradigmas durch das Rassistsiche ein anderes, sondern auch die Motviation, die in weiten Teilen dahinter stand.
Sozialneid ist eine weitgehend plausible Erklärung für den modernen Antisemitismus. Für weite Teile des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Antijudaismus, erscheint das weit hergeholt.

Welche Gründe hätte es gegeben, eine in weiten Teilen duchaus arme, geächtete, am Rand der Gesellschaft lebende Gruppe en gros zu beneiden?
Sicher vielleicht gab es Gründe erfolgreiche Bankiers und Handelsheeren zu beneiden, aber die dürften innerhalb der Gruppe der Judens insgesamt allenfalls einen niedrigen einstelligen Prozentsatz ausgemacht haben.










* Hiervon würde einzig judenfeindliche Stimmungen und teilweise Pogrome ausnehmen wollen, die mit dem Wiederaufleben der Rituatlmordlegende in Mitteleuropa im ausgehenden 19. und beginnenden 20. jahrhundert in Verbindung stehen.
Diesen Erscheinungen ging meist ein realer, mitunter brutaler Mord (z.B. Konitz) vorraus, der vielleicht nicht unerklärbar war, aber in der direkten Umgebung immerhin verständliche, echte Angsteaktionen ausgelöst haben dürfte, die man in weiten Teilen weniger als politisches Kalkül, sondern als authentische Stimmunglage wird betrachten können.
 
Aus gegeben Anlass habe mich heute etwas mehr mit dem Antisemitismus beschäftigt. Hier nur das Ergebnis dieser Recherche, noch etwas ungeordnet und natürlich unvollständig ist:

Der Historiker Philipp Ther schreibt z.B., dass Hitler nicht nur wegen der Weltwirtschaftskrise an die Macht kam, wie manche hier nicht müde werden zu behaupten, sondern auch wegen seines antisemitischen und antislawischen Nationalismus und seinem Versprechen, die vermeintlich ungerechten Grenzen im Osten zu revidieren.

Daniel Goldhagen hat in seinem im Jahr 1996 erschienenen Buch "Hitlers willige Vollstrecker" viel Schmarrn geschrieben, aber auch gesagt, dass die Holocausttäter nicht nur Nazis waren, wie im Nachkriegsdeutschland behauptet, sondern auch ganz normale Deutsche. Allerdings sagt er auch, dass es ohne Hitler bzw. des Dritten Reiches keinen Holocaust gegeben hätte. Diese Aussagen werden nicht mehr bestritten.

Warum diese normalen Deutschen mitgemacht haben, erklärt wiederrum der Historiker Frank Bajohr – Zitat:

"Innerhalb von fünf Jahren hatte sich in der deutschen Bevölkerung ein antijüdischer Konsens entwickelt, der Juden als Nicht-Deutsche betrachtete, die nicht zur Volksgemeinschaft gehören. Dieser Weg zu einem antijüdischen Konsens war geprägt von den vier Faktoren, die ich erwähnt habe: Antisemitismus, Akzeptanz der vom NS-Regime propagierten Normen des NS-Regimes, die Aktivierung gesellschaftlicher Interessen an der Verfolgung der Juden und die wachsende Popularität der Konsensdiktatur und vor allem Hitlers.

Obwohl dieser Konsens keinen Konsens über den Massenmord beinhaltete, diente er als notwendige und hinreichende Grundlage für die folgende Vernichtungspolitik und Handlungen der Täter."

Carl Schmitt, der "Kronjurist" des Dritten Reiches, hat schon 1934 in seiner Schrift "Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" u.a. gesagt, dass die Volksgemeinschaft die alleinige Quelle des Rechts sei (die PiS in Polen ist ähnlicher Ansicht), und dass es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht geben könne. Das heißt, wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potenzielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht, außerhalb aber gelten Macht, Kampf und Vernichtung.

Angesichts der Betonung der Volksgemeinschaft im Dritten Reich, halte ich diese These für mitentscheidend für die Tatsache, dass der Antisemitismus der Nazis, dem anfangs (laut Hans Mommsen) nur 15-20 Prozent der Bevölkerung folgte, im Laufe der Zeit in der Bevölkerung so sehr anwuchs, dass kaum jemand noch gegen die Verfolgung der Juden protestierte. Das deckt sich auch mit der oben zitierten Einschätzung Frank Bajohrs.

Übrigens 1938: Es wurden einige Täter, die während der Reichspogromnacht gemordet haben, angeklagt, aber sie wurden freigesprochen oder von Hitler begnadigt, nur 3 oder 4 SA-Männer, die jüdische Frauen vergewaltigten, wurden verurteilt: Wegen Rassenschande – sie wurden selbstverständlich nicht begnadigt.

Rassenschande war im Dritten Reich ein größeres Verbrechen als Mord, denn, siehe Carl Schmitt, Juden wurden als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend definiert und konnten deswegen umgebracht werden. Und wenn jemand sieht, das Umbringen eines Juden keine Konsequenzen hat, dann ist das auch für einen biederen Familienvater kein Problem mehr. Ähnliches galt auch für Täter in den mittelalterlichen und neuzeitlichen Pogromen, wenn auch aus anderen Gründen.

Richard F. Hamilton stellt in “Who Voted for Hitler?” fest, dass nicht nur Kleinbürger und untere Mittelklasse Hitler oft gewählt haben, sondern auch Reiche:

In Zehlendorf z.B. kam die Partei Hitlers bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 auf 36,4% der Stimmen gegenüber 28,6% in ganz Berlin. Und in Blankenese schnitten die Nationalsozialisten am gleichen Tag mit 53,8% besser ab als in allen anderen Hamburger Stadtteilen. Das war nicht wahlentscheidend, aber es belegt, dass quer über alle gesellschaftlichen Schichten Hitler überproportional oft gewählt worden ist.

An dieser Stelle taucht für mich die Frage auf, wie konnten Leute wie Richard Wagner oder Hitler behaupten - und damit auch Erfolg haben! -, dass Juden ihre Minderwertigkeit angeboren sei, wo beide doch sehen konnten, dass zumindest deutschen Juden erfolgreich und wohlhabend waren, schließlich war der Neid auf deren Wohlstand eine der Triebfedern des Antijudaismus und des Antisemitismus.

Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielte eine wichtige Rolle bei der Bildung einer Nation, die sich durch Bismarck zwar geografisch zusammenfand, aber vom Denken her noch nicht "gleichgeschaltet" war. Der einflussreiche Historiker Heinrich von Treitschke war ein Nationalist, der bestrebt war, einen inneren Zusammenhalt in Deutschland mit dem Hinweis auf Nationalität und Kultur zu erreichen. Dazu kamen ihm die Juden als Abgrenzung gerade recht: Sie hätten unangemessen viel Einfluss "auf unser nationales Leben", sagte er, und warnte vor einem "Zeitalter deutsch-jüdischer Mischkultur" und von "Doppelnationalität", besonders des jüdisch-kosmopolitischen Typs ab. Weil er über 30 Jahre Hochschulprofessor und offenbar ein Naturtalent in Rhetorik* war, hatte er sehr viele Zuhörer, die später die Elite Deutschlands bildeten, und noch mehr (bürgerliche) Leser, die seine These von Einzigartigkeit der überlegenen germanischen Rasse gern für bare Münzen nahmen – u.a. seine These, der Deutsche Orden hätte (zuvor anscheinend kulturlosen) Slawen Kultur gebracht, wurde gerne geglaubt (das hat auch in diesem Forum schon jemand behauptet, wenn ich mich recht erinnere). Juden und Slawen waren für ihn quasi Untermenschen, wie später auch für die Nazis, für die aber nicht mehr quasi, sondern in echt.

Der Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus, wie Treitschke sie verkörperte, waren der Boden, auf dem der Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus der Nazis wuchs: Sie setzten um, was Treitschke halbes Jahrhundert zuvor lehrte und propagierte.

Ähnliches gibt es auch von Eugen Dühring zu lesen, wobei sich seine Tiraden gegen die Juden im Nichts von denen der Nazis unterscheiden – Zitat: 1900 forderte er direkt die "Vernichtung des Judenvolkes".
Wenn das kein Kontinuum des Antisemitismus des Kaiserreichs bis zum Antisemitismus des Dritten Reichs darstellt, dann weiß ich nicht, was dieses Wort bedeutet.

Es wurde hier immer wieder darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus ein gesamteuropäischer war, was stimmt, aber es wurde dabei verschwiegen, dass z.B. der französische Antisemitismus vor allem mit kulturellen und sozialen Aspekten argumentierte und weit weniger mit rassistischen-biologischen, die für den deutschen Antisemitismus so bedeutend waren.

In der Wikipedia gibt es einen guten Artikel über die Reichspogromnacht 1938. Aus dem geht hervor, dass die Nazis von den ersten Pogromen am Nachmittag des 7. November in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt selbst überrascht waren, dann aber in der Nacht zum 8. November rasch handelten und die Aktionen steuerten.

Hans Mommsen schreibt dazu (er verwendet noch das von den Nazis eingeführte Wort "Reichskristallnacht"), dass das gewaltsame Vorgehen gegen Juden extrem unpopulär war. Erst die quasigesetzlichen Maßnahmen, die Müller und Himmler trafen, bewogen die öffentliche Meinung, einzulenken und die Abführung von 20.000 deutschen Juden in die Konzentrationslager zu tolerieren.
 
Der Historiker Philipp Ther schreibt z.B., dass Hitler nicht nur wegen der Weltwirtschaftskrise an die Macht kam, wie manche hier nicht müde werden zu behaupten,
Wer wird nicht müde das zu behaupten?

Daniel Goldhagen hat in seinem im Jahr 1996 erschienenen Buch "Hitlers willige Vollstrecker" viel Schmarrn geschrieben, aber auch gesagt, dass die Holocausttäter nicht nur Nazis waren, wie im Nachkriegsdeutschland behauptet, sondern auch ganz normale Deutsche.
Das war weder Kern noch Stoßrichtung Goldhagens und auch nichts, was nicht schon vor Goldhagen (Stichwort Christopher Browning) bekannt war. Goldhagen hat sich die bereits von Browning bearbeiteten Dokumente vorgenommen und kam zu ganz anderen Ergebnissen als Browning. Nachdem die Goldhagen-Debatte abgeflaut ist, spielt Goldhagen kaum noch eine Rolle, Brownings Werk hingegen ist ein Standardwerk. Goldhagen ist halt in der Öffentlichkeit für einen kurzen Moment heiß debattiert worden. An Browning kommen Holocaustforscher heute nicht mehr vorbei. Und Browning erklärt den Holocaust eben nicht mit einem den damaligen Deutschen inhärenten „eliminatorischen Antisemitismus“, sondern sozialpsychologisch - und gibt damit auch Hinweise für die Adornosche Forderung der Erziehung nach Auschwitz.

Allerdings sagt er auch, dass es ohne Hitler bzw. des Dritten Reiches keinen Holocaust gegeben hätte. Diese Aussagen werden nicht mehr bestritten.
Das ist eine recht dürftige Aussage. Wer wollte Hitlers Rolle im Holocaust bestreiten (außer Holocaustleugnern und Hitler-Verehreren)? Aber selbst nach der Sportpalastrede vom Januar 1939 war der Holocaust nicht determiniert. Die Geschichte hätte immer noch anders verlaufen können.

Richard F. Hamilton stellt in “Who Voted for Hitler?” fest, dass nicht nur Kleinbürger und untere Mittelklasse Hitler oft gewählt haben, sondern auch Reiche:

In Zehlendorf z.B. kam die Partei Hitlers bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 auf 36,4% der Stimmen gegenüber 28,6% in ganz Berlin. Und in Blankenese schnitten die Nationalsozialisten am gleichen Tag mit 53,8% besser ab als in allen anderen Hamburger Stadtteilen. Das war nicht wahlentscheidend, aber es belegt, dass quer über alle gesellschaftlichen Schichten Hitler überproportional oft gewählt worden ist.
Hier ist dir sicherlich beim Schreiben etwas durcheinander gegangen. Du willst sicher sagen, dass in wirtschaftlich wohl situierten Bezirken die Nazis besonders viele Stimmen erhalten hätten.

An dieser Stelle taucht für mich die Frage auf, wie konnten Leute wie Richard Wagner oder Hitler behaupten - und damit auch Erfolg haben! -, dass Juden ihre Minderwertigkeit angeboren sei, wo beide doch sehen konnten, dass zumindest deutschen Juden erfolgreich und wohlhabend waren, schließlich war der Neid auf deren Wohlstand eine der Triebfedern des Antijudaismus und des Antisemitismus.
Die Frage ist, ob die Nazis wegen oder trotz ihres Antisemitismus gewählt wurden. Wenige Jahre zuvor waren die noch eine unbedeutende Kleinstpartei, deren Parteichef als Schreihals verschrieen war, ein lächerlicher Typ der sich als Old Shatterhand gerierte.
Und da du gerade darauf hingewiesen hast, dass nach Hamilton in Zehlendorf und Blankenese (also Stadtteilen mit einer wohlhabenderen Bevölkerung) überdurchschnittlich oft die Nazis gewählt wurden, kann Neid - wenn Antisemitismus der Grund für die Wahl der Nazis war - nicht der vorherrschende Grund für den Antisemitismus gewesen sein. Wenn Antisemitismus in diesen Bezirken Grund dafür war, die Nazis zu wählen, dann war Neid sicher nicht die Ursache. Es sei denn, Hamilton hätte seine Ergebnisse falsch interpretiert und es waren nicht die Reichen, welche vorrangig die Nazis wählten, sondern ihre Angestellten. (Tatsächlich hat Hamilton aber auch mit Stimmabgaben auf Urlaubsreisen argumentiert, was für die These spräche, dass besonders Reiche überdurchschnittlich oft die Nazis gewählt hätten. Allerdings kommt Falter m. E. zu ganz anderen Ergebnissen, als Hamilton.)

Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielte eine wichtige Rolle bei der Bildung einer Nation, […] Der einflussreiche Historiker Heinrich von Treitschke war ein Nationalist, der bestrebt war, einen inneren Zusammenhalt in Deutschland mit dem Hinweis auf Nationalität und Kultur zu erreichen. Dazu kamen ihm die Juden als Abgrenzung gerade recht:

Der Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus, wie Treitschke sie verkörperte, waren der Boden, auf dem der Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus der Nazis wuchs: Sie setzten um, was Treitschke halbes Jahrhundert zuvor lehrte und propagierte.
Nein! Treitschkes kultureller Antisemitismus war mit dem biologistischen Rassenantisemitismus, den die Nazis vertraten, nicht vereinbar. Treitschke forderte die bedingungslose Assimilation der Juden, also die Aufgabe jeglicher jüdischen Identität. Die Nazis hingegen forderten den Ariernachweis, und Leute, die bedingungslos assimiliert waren, keine jüdische Identität mehr hatten, erfuhren plötzlich, dass sie nicht zur rassisch definierten Volksgemeinschaft gehörten. Eine ungebrochene Linie von Treitschke zu den Nazis gibt es also nicht, selbst wenn beides unter dem Lemma des Antisemitismus lief. Treitschke wollte die Assimilation. Für die Nazis war das, was Treitschke wollte, Rassenschande.

Es wurde hier immer wieder darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus ein gesamteuropäischer war, was stimmt, aber es wurde dabei verschwiegen, dass z.B. der französische Antisemitismus vor allem mit kulturellen und sozialen Aspekten argumentierte und weit weniger mit rassistischen-biologischen, die für den deutschen Antisemitismus so bedeutend waren.
Du wirst natürlich Rassenantisemitismus und anderen Antisemitismus finden: siehe den kulturellen Antisemitismus bei Treitschke oder den Rassenantisemitismus bei Dühring. Nichtsdestotrotz sind das erst einmal Einzelauffassungen, deren Publikation du mit Publikumswirksamkeit verwechselst. Und damit rede ich weder den Antisemitismus klein, noch seine Wirkung in der Gesellschaft. Es geht allein um die Logik deiner Argumentation und im Falle von Treitschke, dass dessen Antisemitismus eben doch ein anderer war, als der der Nazis und dennoch Antisemitismus.

Hans Mommsen schreibt dazu (er verwendet noch das von den Nazis eingeführte Wort "Reichskristallnacht"), dass das gewaltsame Vorgehen gegen Juden extrem unpopulär war.
Da du hier anklägerisch mit dem Finger auf Mommsen zeigst „der verwendet noch den von den Nazis verwendeten Begriff!“ - was anderes tun wir, wenn wir von Deportation oder vergasen sprechen? - verstehe ich dich hier so, dass du Mommsen das nicht glaubst. Ich empfehle dazu das als Der Schattenmann veröffentlichte Tagebuch der Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich. Auch die schreibt davon, dass die Berliner am Morgen des 9. November eher betreten als begeistert waren.
Im Übrigen, zum Thema Reichskristallnacht: nicht nur Mommsen, auch BAP oder der israelische Musiker Schidlowski verwenden diesen Begriff. Und da du Wikipedia-Zitate so gerne als Verecundiam-Argumente heranziehst, der Wikipediaartikel zu den Novemberprogromen ist wirklich gut. Dann lies dir mal den Abschnitt zur heutigen Benennung durch: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrome_1938#Heutige_Bezeichnungen
 
...da die Entstehung von ethnischen Konflikten hier keine Rolle mehr spielt: ich hätte Neuigkeiten von Festungen ;):D
 
Die Frage ist, ob die Nazis wegen oder trotz ihres Antisemitismus gewählt wurden.

Die Frage wurde im Thread "Konfessioni, Antisemitismus und NS" bereits erörtert, vielleicht könnte man dort weitermachen.
Oder nachlesen, was dazu schon geschrieben wurde.

Gerhard Paul, Aufstand der Bilder - Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990 schreibt dazu (S. 236):

Es mag überraschen, dass auch der Antisemitismus in der Plakatpropaganda der NSDAP vor 1933 nur eine Marginalie war, eher im Hintergrund als allgemeines Deutungsmuster, denn im Vordergrund auftauchte, stärker in den Anfangsjahren der "Bewegung" propagiert wurde, als in der Endphase des Kampfes um den Staat. Bereits Medebach verwies darauf, dass die Gruppe der antisemitischen Bildplakate "mehr in der Frühzeit der NSDAP in Erscheinung trat" als in späteren Jahren. Zwar hatte Hitler 1922 noch in einer Anweisung an die Ortsgruppen die "Judenfrage" zum zentralen Inhalt der Propaganda erhoben, und bestimmten bis 1928 antisemitische Bildplakate die Litfasssäulen; danach allerdings ebbte der offen propagierte Antisemitismus in der Wahlwerbung zunehmend ab und bekam stärker binnenpropagandistische Funktionen. Mit Blick auf den Reichstagswahlkampf von 1930 registrierte ein so aufmerksamer Beobachter der NSDAP wie Carlo Mierendorff, dass die früher dominierende antisemitische Tendenz gegenüber der antikapitalistischen und antimarxistischen Propaganda zurückgetreten sei und ihr nur mehr regionale bzw. nebensächliche Bedeutung zukomme.
Die neue Forschung hat diese Beobachtung vielfach bestätigt.

Ja, aber diese Erfolge waren lange Zeit nicht der Rede wert gewesen.

Man könnte also sagen: Solange der Antisemitismus die öffentliche Propaganda der NSDAP prägte, waren die Erfolge nicht der Rede wert.

Oben wurde das Oberamt Gerabronn genannt, das war die Nazi-Hochburg im Südwesten mit 64% NSDAP-Stimmenanteil im Juli 1932. Dennoch wählte man dort auf kommunaler Ebene ziemlich "unpolitisch"; bei den Gemeinderatswahlen im Dezember 1931 gab es nicht einmal eine Liste der Nationalsozialisten und im ganzen Oberamt keinen NSDAP-Gemeinderat. "Die keineswegs zentrale Bedeutung des Antisemitismus für viele Wähler der NSDAP belegte auch die Wahl eines Juden mit der höchsten Stimmenzahl auf der Liste des landwirtschaftlichen Orts- und Gewerbevereins in Gerabronn." (Schnabel, S. 64)


Der Historiker Philipp Ther schreibt z.B., dass Hitler nicht nur wegen der Weltwirtschaftskrise an die Macht kam, wie manche hier nicht müde werden zu behaupten, sondern auch wegen seines antisemitischen und antislawischen Nationalismus und seinem Versprechen, die vermeintlich ungerechten Grenzen im Osten zu revidieren.
Wo genau schreibt er das?
 
Zuletzt bearbeitet:
In der Wikipedia gibt es einen guten Artikel über die Reichspogromnacht 1938. Aus dem geht hervor, dass die Nazis von den ersten Pogromen am Nachmittag des 7. November in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt selbst überrascht waren, dann aber in der Nacht zum 8. November rasch handelten und die Aktionen steuerten.

Diese Interpretation kann ich dort nicht wiederfinden. Die letzte Bearbeitung des Artikels war vorgestern, da hat jemand einen YouTube-Link entfernt.

Die Nachricht vom Attentat auf den zuvor weitgehend unbekannten Diplomaten vom Rath erreichte die deutsche Öffentlichkeit erst am 8. November 1938 durch die Tagespresse. Bereits am Spätnachmittag des 7. November begannen jedoch in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt die ersten Übergriffe gegen Juden, ihre Wohnungen, Geschäfte, Gemeindehäuser und Synagogen. Die Täter waren Angehörige von SA und SS. Sie traten in Zivilkleidung auf, um wie normale Bürger zu wirken und die übrige Bevölkerung zum „Volkszorn“ wegen des Attentats in Paris aufzuhetzen.
[…]
Von wem die Initiative zu den Ausschreitungen in Kurhessen kam, ist umstritten. Der Historiker Wolf-Arno Kropat glaubt, Gaupropagandaleiter Heinrich Gernand sei „offensichtlich“ vom Reichspropagandaministerium dazu beauftragt worden.[28]Alan E. Steinweis sieht dafür keine Belege. Höchstwahrscheinlich habe Gernand die Berliner Propaganda als Signal verstanden, seine Parteigenossen gegen die örtlichen Juden losschlagen zu lassen.[29] Angela Hermann hingegen schließt eine Anstiftung der kurhessischen Exzesse durch Goebbels aus und hält auch die Gernand zugeschriebene Rolle als Anstifter für fragwürdig.[30] Die Aktionen wurden von örtlichen Parteiführern – darunter einem Kreisleiter – und SA-Parteiaktivisten gesteuert; teilweise wurden sie von auswärtigen Parteimitgliedern dazu aufgefordert.[31] Der Historiker Hans-Jürgen Döscher geht davon aus, dass sich hier das „gewalttätige Potential der antisemitischen Parteibasis“ zeigte.[32]
Von Überraschung bei Polizei und SS ist dann später die Rede und in diesem Zusammenhang auch vom Konflikt zwischen verschiedenen Parteigrößen und Funktionären:

Polizei und SS waren offenkundig von den Pogromen überrascht worden, die eine Stunde, bevor man sie informiert hatte, begonnen hatten. Darauf deutet nicht zuletzt die Tatsache hin, dass zwei Anordnungen an identische Empfänger gesandt wurden, Müllers Telex war offenkundig hastig formuliert worden und musste deshalb durch Heydrichs Schreiben ergänzt und konkretisiert werden.[41] Die Leitung der Zerstörungen oblag nicht ihnen, sondern den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP. Sie beriefen die SA-Ortsgruppen ein, die ihre Mitglieder instruierten und in Marsch setzten, um die Befehle auszuführen.
Dies wird später, in anderem Kontext, wiederholt:

Teile der Parteibasis waren von den Pogromen überrascht worden und lehnten sie vor allem wegen der distanzierten Haltung Hitlers als „wilde“ und „ungesetzliche“, das hieß vom „Führer“ scheinbar nicht gedeckte Aktion ab. Auch Regierungsmitglieder, darunter Göring, Himmler, Heydrich, Funk und Alfred Rosenberg, distanzierten sich und wiesen Goebbels die Alleinverantwortung für unvorhersehbare außen- und wirtschaftspolitische Folgen zu. Himmler kritisierte noch in der Nacht Goebbels’ Aktion, die er auf dessen „Machtstreben“ zurückführte, als „Hohlköpfigkeit“.[85] Schon am Vormittag des 10. November warf Göring Goebbels vor, seine Aktion habe aus ökonomischer Ignoranz die „volkswirtschaftlich unsinnige Zerstörung von Sachwerten“ herbeigeführt, die er dem deutschen Staat gern als Raubgut zugeführt hätte.[86]Himmler und Göring versuchten Hitler davon zu überzeugen, Goebbels zu entlassen, doch dieser hielt seinem Propagandaminister die Stange und zeigte durch einen gemeinsamen Theaterbesuch am 15. November seine Solidarität.[87]
Im Wikipedia-Artikel steht also etwas ganz anderes, als das, was du daraus machst. Es ist mitnichten so, dass „eliminatorischer Rassenabtisemitismus“ der deutschen Bevölkerung am 7. November anlasslos zur den Novemberpogromen geführt hatte und „überraschte Nazis“ auf den Zug aufsprangen und die Führung übernahmen. Die hatte von Anfang an das Reichspropagandaministerium.

 
Aus gegeben Anlass habe mich heute etwas mehr mit dem Antisemitismus beschäftigt. Hier nur das Ergebnis dieser Recherche, noch etwas ungeordnet und natürlich unvollständig ist:
Aus gegebenem Anlass wäre es vielleicht sinnvoll, du würdest uns mitteilen, was du mit diesem Sammelsurium von Einzelthesen mitteile möchtest?

Inhaltlich:

Der Historiker Philipp Ther schreibt z.B., dass Hitler nicht nur wegen der Weltwirtschaftskrise an die Macht kam, wie manche hier nicht müde werden zu behaupten
Wer genau schreibt das?
Niemand.
Wie immer Schattenboxen. Was hier desöfteren geschrieben und inhaltlich auch nicht zu bestreiten ist, ist dass Hitler ohne die Weltwirtschaftskrise mit ziemlicher Sicherheit nie an die Macht gekommen wäre.
Das die NSDAP von 1930-1932 über drei Reichstagswahlen von einer unbedeuetenden Splitterpartei zu der Politischen Partei mit der meisten Zustimmung und ungefähr einem Drittel Gesamtstimmenanteil wurde, ist kein Zufall.

Die rechtsextremen Themen der NSDAP waren ja nicht neu, aber vorher hatten sie kaum jemanden interessiert. Mal davon abgesehen, dass die NSDAP darauf auch kein Monopol hatte, denn Antisemitismus und antislawischer Nationalismus waren durchaus auch Anliegen der DNVP.
Das waren kaum Faktoren, die man für Hitlers Aufstieg und den der NS-Bewegung als entscheidend benennen könnnte.

Daniel Goldhagen hat in seinem im Jahr 1996 erschienenen Buch "Hitlers willige Vollstrecker" viel Schmarrn geschrieben, aber auch gesagt, dass die Holocausttäter nicht nur Nazis waren, wie im Nachkriegsdeutschland behauptet, sondern auch ganz normale Deutsche.

Was 1996 im Übrigen durchaus keine bahnbrechende Neuerung mehr war, etwa Christopher Browning hatte überzeugende Nachweise im Bezug auf Holocausttäter ja bereits vorher geliefert.

Allerdings sagt er auch, dass es ohne Hitler bzw. des Dritten Reiches keinen Holocaust gegeben hätte.
Auch das ist ehrlich gesagt keine bahnbrechende Erkenntnis.
Man könnte sogar durchaus weitergehen und sich die Frage stellen, ob selbst mit Hitler und dem NS-Reich der Holocaust so wie er stattgefunden hat, das zwangsläufige Ergebnis war.

Man stelle sich z.B. mal vor, es hätte den Haltebefehl vor Dünkirchen nicht gegeben, die britischen Streitkräfte in Frankreich wären komplett aufgerieben worden und die britische Regierung hätte sich gezwungen gesehen sich in irgendeinen Frieden mit Hitler einzulassen, ist ja an für sich keine so absurde Vorstellung.

Die Konsequenz wäre dann gewesen, dass das Hirngespinst des durch die NS-Behörden geisternden "Madagaskar-Plans" möglicherweise tatsächlich realisierbar gewesen wäre.
Möglicherweise hätte sich das NS-Regime dann tatsächlich darauf verlegt, die europäichen Juden nach Madagaskar zu deportieren. Nicht dass das weniger verbecherisch gewesen wäre, auch dass wäre gemäß Völkermordkonvention unter "Genozid" gefallen, zumal viele wahrscheinlich auch das nicht überlebt hätten, aber es wäre eben anders gewesen, als die Schlucht von Babyn jar und die Todesfabrik von Auschwitz und was wir sonst mit dem Holocaust verbinden.

Carl Schmitt, der "Kronjurist" des Dritten Reiches, hat schon 1934 in seiner Schrift "Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens" u.a. gesagt, dass die Volksgemeinschaft die alleinige Quelle des Rechts sei (die PiS in Polen ist ähnlicher Ansicht), und dass es außerhalb der Gemeinschaft kein Recht geben könne. Das heißt, wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potenzielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht, außerhalb aber gelten Macht, Kampf und Vernichtung.

Ich muss zunächst mal sagen, dass ich mich mit Schmitt und dessen Rechtsauffassungen nicht so gut auskenne, andere User, wie @silesia oder @muck werden dazu mehr sagen können.

Ich möchte vorsichtig darauf hinweisen, dass der Begriff "Volksgemeinschaft" keine NS-Schöpfung ist, sondern bereits im Kaiserreich geprägt wurde und entsprechend Schmitt unter "Volksgemeinschaft" möglicherweise etwas anderes verstand als die Nazis.

Rein Isoliert, ohne den Tesxt insgesammt zu kennen, würde ich aus dem Satz eher lesen, dass das Volk (aber ich weiß nicht, ob Schmitt hier die Volksgemeinschaft im NS-Sinne oder noch das Staatsvolk im allgemeinen Sinne Vestand) Ursprung und Geltungsbereich jeder Rechtssetzung sei.
Je nachdem, was genau Schmitt unter "Volksgemeinschaft" verstand, wäre das nicht unbedingt eine spektakuläre Feststellung.
Und auch dein Verständnis, was dass für Personen innerhalb dieser Gruppe bedeutet, hängt stark davon ab, wie Schmitt den Begriff "Volksgemeinschaft" genau versteht.

Wenn er "Volksgemeinschaft", nämlich nicht als exklusive rassistische Vereinigung im Sinne der NS-Ideologie verstanden haben sollte, wäre das anders aufzufassen.
Das möchte ich allerdings nicht entscheiden, da ich wie gesagt mit Schmitt zu wenig vertraut bin, aber vielleicht kann da jemand etwas erhellendes zu sagen, der oder die da tiefer in der Materie ist?

Rassenschande war im Dritten Reich ein größeres Verbrechen als Mord

Das ist in dieser Form Unsinn.
Die Strafen auf Mord waren höher angesetzt.
Das NS-Regime unterließ häufig die Verfolgung von Morden, wenn es ihm missliebige Personen traf.
Wenn aber nicht oder wenn der Täter selbst zu einer Gruppe gehörte, die vom Regime verfolgt wurde, waren die Strafen mitunter drakonisch.

Richard F. Hamilton stellt in “Who Voted for Hitler?” fest, dass nicht nur Kleinbürger und untere Mittelklasse Hitler oft gewählt haben, sondern auch Reiche

Wir wissen doch bereits seit den 1940er und 1950er Jahren, das Hitler durchaus sogar bis in die Kreise der Schwerindustrie Unterstützer hatte, die ihn nicht nur wählten, sondern seine Partei mitunter auch kräftig unterstützten.
Das Leute wie Fritz Thyssen oder Emil Kirdorf Hitler unterstützten war doch schon damals kein Geheimnis.

Von Thyssen gab es doch sogar die umstrittene Biographie "I paid Hitler"

I Paid Hitler – Wikipedia

Die diese Verbindung bereits in den 1940er Jahren offenlegte. Auch die "Industrielleneingabe" vom November 1932 ist doch bereits seit Ewigkeiten bekannt.
Die gesamte realsozialistische Geschichtssschreibung hat gemäß der marxistisch-leninistischen Diktion, dass der Faschismus mehr oder minder das Endstadium des Kapitalismus sei sich Jahrzehnte daran abgearbeitet Hintergründe und Handeln kapitalstarker NS-Unterstützer und Wähler heraus zu arbeiten.

Was also möchtest du uns hier als Sensation verkaufen?
Demgegenüber ist an anderer Stelle allerdings lannge nachgewiesen, dass größere Parteispenden der Industrie und ihrer Interessenverbände in Teilen zwar an die NSDAP gingen, in deutlich größerenn Teilen, (vor allem gemessen an deren politischer Resonanz) allerdings an die liberale DDP und die halb liberale, halb rechtskonservative DVP und die rechtsnationale DNVP.
Das Hitler durchaus wohlhabende Unterstützter hatte, ist kein Novum, aber die waren weder entscheidend für die Finanzierung der NSDAP (vielleicht in Anfangsjahren, aber in den späten 1920ern und in der Phase des politischen Aufstieges der NSDAP nicht mehr) nocht lässt sich feststellen, dass die wohlhabenderen Teile der Bevölkerung in Scharen allessamt zu Hitler gelaufen wären.

Im Hinblick auf Berlin und Hamburg wird man berücksichtigen müssen, dass diese beiden Städte KPD-Hochburgen waren und dass möglicherweise dazu beigetragen hat, dass sie wohlhabenden Kreise hier besonders bedroht sahen und sich nach besonders radikalen Antworten darauf umtaten.
In den meisten anderen Städten Deutschlands, außer vielleicht in Teilen des Ruhrgebiets gab es eine so starke KPD-Präsenz, die von den Wohlhabenden als Bedrohung empfunden werden konnte, allerdings nicht.

Würde man sich stichprobenartig, etwa die wohlhabenderenn Vierten von Frankfurt a.M., Dresden, Breslau oder aderen Großstädten anschauen, wird man wahrscheinlich in Ermangelung entsprechend starker KPD-Präsenz deutlich geringere NSDAP-Ergebnisse vorfinden.
Eine Ausnahme wäre hier möglicherweise noch München, als Brutstätte der NS-Bewegung und Wahlheimat Hiterls.
 
Zuletzt bearbeitet:
Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts spielte eine wichtige Rolle bei der Bildung einer Nation, die sich durch Bismarck zwar geografisch zusammenfand, aber vom Denken her noch nicht "gleichgeschaltet" war.

Das halte ich für ein Gerücht. Aber du darfst gerne versuchen vernünftige Nachweise dafür zu liefern.
Da würde ich denn auch, mit der schwachen Resonanz der Antisemiten-Parteien im Kaiserreich argumentieren wollen.
Wäre Antisemitismus der Gründungsmythos der deutschen Nation und gesellschaftlicher common sence gewesen wären die kein Nieschenphänomen geblieben, sondern man hätte einen manifesten extrem einflussreichen Antisemitismus bereits im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg gehabt.

Das Gegenteil ist aber der Fall orientiert man sich an den Wahlergebnissen, dann war zustimmungsstärkste politische Kraft im Parteienspektrum im Kaiserreich mit zunehemender Tendenz der international ausgerichtete Sozialismus in Form der SPD, aber nicht der organisierte Antsiemitismus.

Wenn das kein Kontinuum des Antisemitismus des Kaiserreichs bis zum Antisemitismus des Dritten Reichs darstellt, dann weiß ich nicht, was dieses Wort bedeutet.

Es hat im Übrigen niemand behauptet, dass es keine Kontinuitäten vom Antisemitismus des Kaiserreichs zu dem im NS-Staat gäbe.
Nur dass:

a) Das es keine direkten Kontinuitäten zwischen dem vormodernen Antijudaismus und dem modernen Rasseantisemitismus der Nazis gibt.
b) Das es nicht zutrift, dass der Antisemitismus im Kaiserreich (jedenfalls vor dem 1. Weltkrieg) eine besonders einflussreiche politische Kraft gewesen wäre, die ein breits Massenphänomen dargestellt hätte, an dass die Nazis ohhne weiteres hätten anknüpfen können.


Es wurde hier immer wieder darauf hingewiesen, dass der Antisemitismus ein gesamteuropäischer war, was stimmt, aber es wurde dabei verschwiegen, dass z.B. der französische Antisemitismus vor allem mit kulturellen und sozialen Aspekten argumentierte und weit weniger mit rassistischen-biologischen, die für den deutschen Antisemitismus so bedeutend waren.

Was, wenn ich das anmerken darf, im Übrigen, dass Vichy-Regime nicht daran gehindert hat, sich zum Komplizen des Holocaust zu machen ohne explizit dazu gezwungen gewesen zu sein.

In der Wikipedia gibt es einen guten Artikel über die Reichspogromnacht 1938. Aus dem geht hervor, dass die Nazis von den ersten Pogromen am Nachmittag des 7. November in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt selbst überrascht waren, dann aber in der Nacht zum 8. November rasch handelten und die Aktionen steuerten.

Das Goebbels-Ministerium hatte über Monate auf so eine Aktion hingearbeitet und nur auf einen Anlass gewartet.
Insofern die Bevölkerung bereits vorher durch Teile der gleichgeschalteten NS-Presse längere Zeit in die entsprechende Richtung bearbeitet worden waren, fällt es mir schwer, selbst nicht direkt von den Organisationen des Regimes durchgeführte Pogrome als "spontan" und aus der Bevölkerung entstanden zu betrachten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich frage mich, ob die Verfolgung der Juden in der Nazi-Zeit und der Holocaust ein ethnischer Konflikt war.
Was ist mit der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma, der Zwangssterilisation und Ermordung der Behinderten? Der Klassifizierung der slawischsprachigen Völker als "Untermenschen"?
LG Frederuna
 
Wer wird nicht müde das zu behaupten?
Weiß ich nicht mehr und habe auf die Schnelle auch nichts gefunden. Tut mir leid.

Goldhagen ist halt in der Öffentlichkeit für einen kurzen Moment heiß debattiert worden.
Einen kurzen Moment? Sein Buch war 6 Wochen auf der Bestsellerliste und beschäftigte heftig die Öffentlichkeit. Man darf nicht vergessen, dass zu diesem Zeitpunkt auch die erste Wehrmachtausstellung aktuell war: Plötzlich war die, in den Augen der breiten Öffentlichkeit, so saubere Wehrmacht nicht mehr das, wofür man sie 5 jahrzehntelang hielt, deshalb war plötzlich alles möglich – auch das, was Goldhagen schrieb.

An Browning kommen Holocaustforscher heute nicht mehr vorbei.
Brownings Werk - über die Untaten des Reserve-Polizei-Bataillons 101 -, der 1992 erschien, hat, außer unter Historikern, in der breiten Öffentlichkeit kein solches Echo erzeugt; das geschah erst durch Goldhagen-Debatte.

Hier frage ich mich, was haben die deutschen Historiker bis 1992 gemacht? Es ist beschämend, dass erst ein Amerikaner sich diesem Thema widmete.

Jedenfalls waren das, was jene Polizeibataillone (101 war ja nicht allein in diesem schmutzigen Geschäft!) taten, ethnische Säuberungen und damit ist man mit dieser Diskussion in diesem Faden schon richtig – nicht wahr @dekumatland und @Stilicho?

Aber selbst nach der Sportpalastrede vom Januar 1939 war der Holocaust nicht determiniert. Die Geschichte hätte immer noch anders verlaufen können.
Damit rennst bei mir offene Türe ein, denn Ähnliches habe ich bereits in #10 gesagt.

Du willst sicher sagen, dass in wirtschaftlich wohl situierten Bezirken die Nazis besonders viele Stimmen erhalten hätten.
Ja.

Die Frage ist, ob die Nazis wegen oder trotz ihres Antisemitismus gewählt wurden.
Man könnte tatsächlich meinen, Nazis würden trotz ihres Antisemitismus gewählt, weil dieser Antisemitismus in ihren Wahlkämpfen der 1930er Jahre kaum noch eine Rolle spielte. Das war gewollt, denn inzwischen gab es die Weltwirtschaftskrise mit Millionen von Arbeitslosen. Also besann sich NSDAP auf ihren Namen (National-Sozialistische-Deutsche-Arbeiterpartei) und warb verstärkt um Arbeiter. Und zwar mit den gleichen oder ähnlichen Parolen wie die SPD und die Kommunisten sie hatten.

Aber damit war der genetisch-biologische Antisemitismus aus der Kaiserzeit nicht aus der Welt. Er überlebte in der Weimarer Republik z.B. in Studentenverbindungen, Burschenschaften, Sportvereinen und Organisationen, die nur Mitglieder mit Arier-Nachweis aufnahmen. Als Beispiel sei hier der Deutsche und Österreichische Alpenverein genannt, in dem das besonders ausgeprägt war: Juden durften weder Mitglied noch in den Vereinshütten bewirtet werden.

Eine ungebrochene Linie von Treitschke zu den Nazis gibt es also nicht, selbst wenn beides unter dem Lemma des Antisemitismus lief.
Schon klar, dennoch trug auch der Antisemitismus Treitschkes dazu bei, die Juden auszugrenzen – Zitat aus Wikipedia:

Treitschkes Auffassungen waren aber radikal nationalistisch, wobei nach seinem Verständnis von Nation die Juden als Fremde ausgegrenzt blieben. Treitschke nahm durch seine Äußerungen „dem Antisemitismus den ‚Kappzaum der Scham‘ (Theodor Mommsen) und machte ihn für breite Bevölkerungskreise akzeptabel, die sich vom ‚Radau- und Pöbelantisemitismus‘ distanzierten“.[21] Er leistete damit „einen bedeutenden Beitrag dazu, den Antisemitismus innerhalb des Bürgertums salonfähig zu machen“.

Das ist genau das, was ich in #30 gesagt habe – Zitat: Weil er über 30 Jahre Hochschulprofessor und offenbar ein Naturtalent in Rhetorik* war, hatte er sehr viele Zuhörer, die später die Elite Deutschlands bildeten, und noch mehr (bürgerliche) Leser, die seine These von Einzigartigkeit der überlegenen germanischen Rasse gern für bare Münzen nahmen …

Und im #30 verlinkten Artikel Frank Bajohrs heißt es u.a. – Zitat (Fettschreibung durch mich): In zahlreichen Kur- und Badeorten - der Domäne der traditionellen Eliten und des Bürgertums - waren jüdische Gäste zudem nicht erwünscht. Im Jahr 1914 listete die deutsch-jüdische Zeitung "Im deutschen Reich" 83 Hotels und Pensionen als "Sperrgebiet" auf. Bis 1931 war diese Zahl auf 360 angestiegen. Dieser Anstieg spiegelt einen anhaltenden Trend zur Ausgrenzung von Juden und zur Ausweitung einer Art touristischer Apartheid wider.

Das Verhalten der deutschen Gesellschaft nach Januar 1933 und ihre Rolle bei der Verfolgung der Juden lässt sich nicht ohne Bezugnahme auf diesen bereits bestehenden gesellschaftlichen Antisemitismus verstehen.

Du wirst natürlich Rassenantisemitismus und anderen Antisemitismus finden: siehe den kulturellen Antisemitismus bei Treitschke oder den Rassenantisemitismus bei Dühring. Nichtsdestotrotz sind das erst einmal Einzelauffassungen, deren Publikation du mit Publikumswirksamkeit verwechselst.
Du darfst die Publikumswirksamkeit nicht unterschätzen, denn ist erstmal der Boden für dieses Denken bereitet, dann ist nur noch ein weiterer Schritt nötig, um auch Verbrechen gegen die Juden zu akzeptieren, die im und nach Jahr 1933 stattfanden.
Apropos Einzelauffassungen: Es gab nur Einzelbilder von Juden, die gezwungen wurden, mit Zahnbürsten Straße zu säubern, dennoch sind sie symptomatisch für die Zeit: Mit Juden kann man alles machen. Straflos.

Da du hier anklägerisch mit dem Finger auf Mommsen zeigst „der verwendet noch den von den Nazis verwendeten Begriff!“ - was anderes tun wir, wenn wir von Deportation oder vergasen sprechen? - verstehe ich dich hier so, dass du Mommsen das nicht glaubst.
Nein, ich wollte Mommsen nicht anklagen, sondern als einen der gewichtigen Kritiker Goldhagens zu Wort kommen lassen. Das Wort Reichskristallnacht hat er 1996 verwendet – da stand der Begriff schon seit 10 Jahren im Feuer der Kritik.

Außerdem bin ich nicht der in der Wikipedia geäußerten Meinung, dass der Ausdruck Reichskristallnacht erst heute als euphemistisch empfunden wird: Das war dieser Begriff von Anfang an, weil das, was tatsächlich stattfand, ins lächerliche gezogen wurde, so nach dem Motto, außer ein paar zu Bruch gegangenen Fensterscheiben passierte nichts.

Und jetzt mokieren sich manche auch an dem Begriff Reichspogromnacht – mit fadenscheinigen Argumenten – und wollen es mit dem neutralen Begriff Novemberpogrome ersetzen: Ich warte auf den Zeitpunkt, an dem das Teilwort Pogrom aus der künftigen wie auch immer gearteten künftiger Bezeichnung verschwindet.

Wo genau schreibt er das?
Philipp Ther in Beyond the Nation: The Relational Basis of a Comparative History of Germany and Europe, Seite 65: https://www.jstor.org/stable/4547271

Der Artikel dürfte auch für @dekumatland interessant sein – wegen der Begeisterung der Franzosen für Wagners Opern.

Es ist mitnichten so, dass „eliminatorischer Rassenabtisemitismus“ der deutschen Bevölkerung am 7. November anlasslos zur den Novemberpogromen geführt hatte und „überraschte Nazis“ auf den Zug aufsprangen und die Führung übernahmen. Die hatte von Anfang an das Reichspropagandaministerium.
Mag ja sein, dass Goebbels gezielt darauf gearbeitet hatte, aber für mich entscheidend ist das, was auch du zitiert hast:
Von wem die Initiative zu den Ausschreitungen in Kurhessen kam, ist umstritten.
Die einen sagen, das war angeordnet, die andern sehen dafür keine Belege.
 
Ich frage mich, ob die Verfolgung der Juden in der Nazi-Zeit und der Holocaust ein ethnischer Konflikt war.
Was ist mit der Verfolgung und Ermordung der Sinti und Roma, der Zwangssterilisation und Ermordung der Behinderten? Der Klassifizierung der slawischsprachigen Völker als "Untermenschen"?
Laut dieser Definition von Ethnie war die Verfolgung und Ermordung der von dir genannten Personengruppen ethnische Säuberung.
 
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