Ich würde eher davon ausgehen, dass die geschilderten Perversitäten keinesfalls als unglabwürdig angesehen wurden. Sueton und auch Tacitus schrieben nicht für die Plebs sondern fürs gebildete Publikum. Die hätten wohl nicht ohne weiteres jeden aus den Fingern gesogenen Unsinn geglaubt . Möglicherweise fröhnte der eine oder andere reiche Zeitgenosse ähnlichen Gelüsten wie die Kaiser. Der Privatbesitz von Menschen, mit denen man im Prinzip zu seinem Vergnügen restlos alles machen konnte, musste die Sitten zwangsläufig verderben. Innerhalb von Ehen galt der Sex mit Sklaven und Sklavinnen nicht als Ehebruch. Die Römer waren Rassisten (sicher anders als heutige Rassisten), schon dadurch, dass sie alle Nichtrömer zu Barbaren erklärten, also minderwertiger als sie selbst. Sklaven galten als Gegenstände auch wenn sich deren Los im Laufe der Jahrhunderte allmählich verbesserte.
Sueton war ja Leiter der Bibliothek, und er hatte Zugang zu kaiserlichen Privatkorrespondenzen. Er schreibt ja eigentlich auch nie, dass das alles wahr sei, sondern dass dieses oder jenes gemunkelt wurde, was man kaum glauben kann. Ob da nicht das ein oder andere davon authentisch gewesen ist-möglich, aber genau wissen wir es nicht. Ich würde keineswegs so weit gehen, dass was Sueton berichtet, als ehrabschneiderische Verleumdungen abzutun, würde mich aber auch hüten, Sueton und Tacitus alles zu glauben. Ihr Publikum war ein gebildetes, keine Frage, und Bücher waren in der Antike sehr teuer. Vor allem aber stammte das Publikum, an die sich die Verfasser senatorischer Geschichtsschreibung wendeten aus den Reihen der senatorischen Aristokratie, die dem Prinzipat sehr kritisch gegenüber stand.
Ich glaube, es war Varro, der schrieb, dass ein Sklave eine res mobile, eine bewegliche Sache sei, und auch, wenn im Prinzipat Kaiser wie Claudius, Antoninus Pius und Hadrian in die Rechte der Sklavenhalter eingriffen, blieb dieser Rechtsgrundsatz im wesentlichen bestehen, und es war ohnehin sehr schwierig, Sklavenrechten Geltung zu verschaffen, wenn z. B. auf einem Latifundium jegliche soziale Kontrolle fehlte.
Cicero hatte sich der Frage gewidmet, ob bei einem Schiffsbruch zuerst ein wertvolles Vollblutpferd oder ein Sklave zu retten sei. Aber ein Sklave war eben auch ein Mensch. Marcus Tullius Tiro, der die sogenannten tironischen Noten, eine Art Stenographie erfand, war nicht nur Ciceros Sklave, später sein Freigelassener, sondern auch sein Freund. Pallas und Narcissus, die Freigelassenen Claudius wurden mächtige Minister, mächtiger, als Könige.
Tacitus geht als Aristokrat davon aus, dass Sklaven eine niedrige Gesinnung haben, von einer grundsätzlichen Überlegenheit würde ich aber nicht sprechen. Sklaven, die in einer römischen Gens aufwuchsen, erhielten in der Regel eine hervorragende Ausbildung im Gegensatz zu den Sklaven der neuzeitlichen Sklaverei, denen nicht einmal erlaubt war, lesen zu lernen. Es war ein Verdienst der Römer, dass sie den hohen Wert der hellenistischen Kultur anerkannten, und mancher Freigelassene, der seinem Herrn kulturell überlegen war, machte in Italien sein Glück. Auch Kelten, Germanen und Orientalen gelang sozialer Aufstieg. Wir brauchen ja nur an Horatius Flaccus zu denken: Flaccus, das Schlappohr ist ein typischer Sklavenname. Horatius Vater war Freigelassener, der seinem Sohn ein Vermögen hinterließ, und der Enkel eines Sklaven brachte es bis zum Ritterstand und wurde von Augustus geehrt.
Trimalchio, der reiche Freigelassene in Petronius Satyricon ist ungebildet, ein Parvenü und tyrannischer als jeder geborene Sklavenhalter, aber auch ein sehr tüchtiger Geschäftsmann und Selfmade-Millionär, der sich auch von verheerenden Fehlschlägen nicht abhalten ließ.
Von der "Plebs" wissen wir leider viel zu wenig. Bestenfalls Schlaglichter von Grabsteinen und aus literarischen Quellen bieten einige Informationen. Sicher wird man auch literarische Werke auch solche der Trivialliteratur mit Vorsicht genießen müssen, ähnlich wie in modernen Telenovelas gibt es Cinderella Geschichten, und am Ende geht alles gut aus. Die unverschämten Sklaven in den Komödien von Plautius und Terenz, die zum Vorbild von Molliere wurden, schildern eine verkehrte Welt. Oft spielt der Sklave die Rolle eines Postillion d'Amour und Verbündeten gegen hartherzige Väter. Es wäre aber nicht auf die Bühne gebracht worden, wäre das völlig unglaubwürdig gewesen. Aus den zahlreichen Bürgerkriegen gibt es Beispiele, das Sklaven und Freigelassene ihre Herrn verrieten, aber auch Gegenbeispiele dass sie trotz Gefahr für das eigene Leben ihren Herren zur Flucht verhalfen.
Juvenal beklagt in seinen Satiren, dass sich der Orontes in den Tiber ergossen habe, was soviel heißt, dass ehemalige Sklaven aus dem Orient oder dem Barbaricum von Rom absorbiert wurden Die Nachkommen wurden Römer, und die Fähigkeit Roms, die Besiegten und Versklavten zu integrieren, machte vielleicht einen nicht unbeträchtlichen Teil des Geheimnis seiner Größe aus. Es gab sicher durchaus so etwas wie antiken Antisemitismus. Flavius Josephus Werk, in dem er seinen Zeitgenossen die Kultur des Judentums nahebringen wollte, blieb aber die Anerkennung nicht versagt, Seine Werke mussten in flavischer Zeit in Bibliotheken aufgenommen werden.
Leider sind literarische Quellen wie Petronius Satyricon, der das Imperium aus der Perspektive der Außenseiter beschreibt, oft nur fragmentarisch erhalten, und bei Grabsteinen, auf denen ehemalige Sklaven stolz von ihrem Aufstieg berichten, wird man sich fragen wie repräsentativ solche Fälle waren. Unser Geschichtsbild ist ja im wesentlichen das der Eliten, der Angehörigen der Reichsaristokratie.
Die "Plebs" hat selten schriftliche Quellen hinterlassen, und noch seltener sind die Beispiele, die die Zeiten überdauert haben. Aber Rom war nicht nur von Senatoren und Rittern bevölkert, auch der ehemalige Sklave, der als Freigelassener ein Restaurant oder eine Arztpraxis gründete, die ehemalige Sklavin, die eine Boutique oder einen Friseursalon errichtete, erfolgreiche Wagenlenker, Gladiatoren und Athleten, die es schafften, die Freiheit und manchmal auch Reichtum und Ruhm errangen, hatten Teil an der Kultur, mögen solche Fälle sicher auch eher die Ausnahme, als die Regel gewesen sein. Immerhin, es gab diese Fälle, und das wäre wohl kaum möglich gewesen, wäre die römische Gesellschaft so starr und undurchlässig, wären Vorurteile gegen Barbaren und Sklaven so mächtig und inflexibel gewesen, wie es bei der Lektüre von Autoren der senatorischen Historiographie den Anschein hat.