Forts.:
[FONT=verdana,arial,geneva]Wiederaufbau und Reform
Am 1. November beschloss die »Große Türkische Nationalversammlung«, das Amt des Kalifats vom Sultanat zu trennen. Mehmed VI. Wahideddin, der 36. osmanische Sultan, verließ daraufhin am 17. November mit seiner Familie auf einem britischen Kriegsschiff Istanbul. Abd ül-Medjid, der Kronprinz, wurde als Kalif von Ankaras Gnaden eingesetzt, jedoch wenig später abgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Schicksal der Türkei in den Händen einer provisorischen, von der Nationalversammlung »bevollmächtigten« Regierung unter Mustafa Kemal gelegen. Mit der Flucht des Sultans war der Weg frei zur Gründung der Republik, nachdem schon am 13. Oktober 1923 Ankara zur Hauptstadt erklärt worden war. Ein entscheidender Schachzug Mustafa Kemals war die Unterdrückung der Opposition in der Nationalversammlung. Nach »Neuwahlen« im Sommer 1923 bestand das Parlament überwiegend aus seinen Gefolgsleuten. Mit der Umwandlung der »Vereinigung für die Verteidigung der Nationalen Rechte in Anatolien und Rumelien« in eine »Republikanische Volkspartei« erreichte er eine solide Machtbasis.
In den vorausgegangenen Kriegen war die anatolische Bevölkerung um 28 Prozent gesunken, insgesamt hatten 2,5 Millionen anatolische Muslime ihr Leben verloren. Die Opfer unter den Armeniern werden auf mindestens 0,6-0,8 Millionen Menschen beziffert, die der Griechen auf 0,3 Millionen. Der Westen Anatoliens war im Zuge des griechischen Vormarsches und Rückzuges stark zerstört worden. Städte wie Bilecik, Yenisehir, Inegöl, Afyon, Sögüt und Adapazar waren vollständig abgebrannt. Zu den wichtigsten politischen Maßnahmen der Regierung gehörte die Aufhebung des Zehnten, der Naturalsteuer, die der bäuerlichen Bevölkerung jahrhundertelang auferlegt worden war und fast 30 Prozent der Staatseinnahmen ausmachte (1925). Die junge Republik leitete eine begrenzt erfolgreiche Autarkiepolitik ein. Der Verfall der Agrarpreise in der Weltwirtschaftskrise (1928/29) bedeutete einen erheblichen Einbruch. Erst um 1930 wurde das Lebensniveau der Vorkriegszeit wieder erreicht. Ein erster Fünfjahrplan (1934-38) trug die Handschrift sowjetischer Berater.
Für Mustafa Kemal war eine ganz offensichtlich gegen islamische Institutionen gerichtete Kulturrevolution der Kern seines Programms. Die Wirksamkeit dieser Politik wird sichtbar, wenn man bedenkt, dass die atatürkschen Reformen als unveränderliche Bestandteile in alle jüngeren türkischen Verfassungen (zuletzt 1982) aufgenommen wurden. Mit der Aufhebung des Kalifats (3. März 1924) hatte das Haus Osman den letzten Rückhalt auf türkischem Boden verloren und wurde ausgewiesen. Gleichzeitig wurden alle türkischen Schulen dem Ministerium für Nationale Erziehung unterstellt. Das bedeutete die Auflösung zahlreicher höherer Lehranstalten für die Ausbildung von islamischen Gelehrten (Medresen). Das Ministerium für Angelegenheiten des islamischen Rechts (Scharia) wurde durch eine Generaldirektion für religiöse Fragen ersetzt, analog verfuhr man mit dem Ministerium für fromme Stiftungen. Mustafa Kemal war selbst an der Türkisierung des Gebetsrufs beteiligt, der zuerst am 30. Januar 1932 in seiner arabischen und dann türkischen Form verkündet wurde. Die islamischen Bruderschaften wurden energisch bekämpft. Besonders sichtbar waren die Folgen des »Gesetzes über das Tragen von Hüten«, mit dem der Fes und der Turban aus dem öffentlichen Leben verbannt wurden. Für den Gesichtsschleier der Frauen wurden keine gesetzlichen Regelungen getroffen, doch verschwand er zunehmend aus dem Bild der Städte.
In einer 36-Stunden-Rede im Oktober 1927 rechtfertigte Mustafa Kemal, seit 1934 Atatürk (»Vater der Türken«) genannt, seine Reformen. Diese nutuk wurde zur »Bibel« des kemalistischen Geschichtsbilds. Die entscheidende Reform in Richtung auf eine Trennung von Religion und Staat war die fast wörtliche Übernahme des Zivilgesetzbuches der Schweiz (1926). Die in den islamischen Rechtsnormen festgeschriebene Minderwertigkeit der Frau wurde damit beseitigt. Bis 1934 erhielten Frauen auf allen städtischen und staatlichen Ebenen das passive und aktive Wahlrecht. 1935 nahmen 17 weibliche Abgeordnete in einer Nationalversammlung von 386 Mitgliedern Platz. Am 10. April 1928 verschwand der Satz der türkischen Verfassung, der den Islam als Religion der Republik Türkei bezeichnet hatte. Gegen alle Voraussagen erfolgreich war die Umstellung auf die lateinische Schrift innerhalb weniger Monate. Die neue Schrift wurde in Alphabetisierungskampagnen, den Nationalschulen, ins ganze Land getragen. Ein staatlich verordnetes Geschichtsbild behauptete eine frühe Einwanderung von Türken in den Vorderen Orient, um den türkischen Nationalismus mit der anatolischen Vergangenheit zu versöhnen. Gleichzeitig wurde die in jungtürkischer Zeit betriebene Purifizierung des Türkischen vorangetrieben: Tausende von Wörtern arabischer oder persischer Herkunft wurden zum Teil mit nachhaltigem Erfolg durch Kunstbildungen ersetzt. Am 3. Februar 1926 wurde der Religionsgelehrte Iskilipli Atf Hodscha zusammen mit zwei anderen Angeklagten vor dem Revolutionsgericht in Ankara zum Tode durch den Strang verurteilt. Man hatte ihm seine gesamte »reaktionäre« Biografie zum Vorwurf gemacht, unter anderem die Verteilung einer Broschüre über »Die Nachäffung der Europäer und den Hut« aus dem Jahr 1924. Der Hodscha habe auch nach Verkündigung des Hutgesetzes seine Propaganda im Untergrund fortgesetzt.
Der Kampf Atatürks gegen seine Widersacher
Im Februar 1925 brach im Herzland der Zaza-Kurden ein Aufstand aus, der sowohl die Merkmale einer religiös motivierten Rebellion als auch einer kurdisch-nationalistischen Erhebung trug. Die Aufständischen konnten sich jedoch nur kurze Zeit behaupten. Scheich Sait, die treibende Kraft des Aufstandes, wurde gefasst und gehängt; zahlreiche Kurden wurden in westliche Landesteile deportiert. In anderen Landesteilen gab es weitere Guerilla-Aktivitäten, von denen nur der Dersim-Aufstand (1937/38) größere militärische Gegenmaßnahmen erforderte. Mustafa Kemal benutzte die Lage, um sich ein Gesetz zur »Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung« genehmigen zu lassen. Es erlaubte der Regierung nicht nur einen harten Zugriff auf Kurden und religiöse Amtsträger, sondern auch eine verschärfte Zensur der unliebsamen Istanbuler Presse. Ein Attentatsversuch in Izmir (15. Juni 1926) auf Mustafa Kemal lieferte den Vorwand, mit prominenten Gegnern abzurechnen.
Der Übergang zum Einparteiensystem erfolgte nach einem riskanten Experiment mit einer zugelassenen Oppositionspartei im Wahljahr 1931. Weder im Parlament noch vor den Wahlen konnte von einer freien, demokratischen Aussprache die Rede sei. 1931 wurde auch das Netzwerk der Türken-Heime, einer kulturpolitischen Organisation, aufgelöst und nach und nach durch die »Volkshäuser« ersetzt. Eine Anzahl von Organisationen wie die nationale Frauenvereinigung löste sich selbst auf mit der Begründung, ihre Ziele seien mit der Revolution erreicht. Die fortschreitende Deckungsgleichheit von Staat und Republikanischer Volkspartei fand ihren Ausdruck in der Übernahme der kemalistischen Prinzipien von 1931 in den Verfassungstext.
In den Dreißigerjahren beteiligte sich Ankara nach Abschluss eines Freundschaftsvertrages mit Griechenland erfolgreich an der Bildung regionaler Bündnissysteme mit seinen westlichen (Balkanpakt 1934) und östlichen Nachbarn (Pakt von Sadabad 1937). In Montreux wurde 1936 das bis heute gültige Abkommen über die türkische Kontrolle der Meerengen - gegen den Widerstand der Sowjetunion - unterzeichnet. Noch in Atatürks Todesjahr leiteten Wahlen in dem umstrittenen »Sandschak von Alexandrette« (Iskenderun) die Rückkehr der Provinz aus dem syrischen Mandatsgebiet Frankreichs in die Türkei ein. Kemal Atatürks Sondergesetzen fielen etwa 600 Menschen durch Exekution und weitere 7500 durch Verhaftungen zum Opfer. Das Fehlen einer bemerkenswerten Opposition erlaubt aber den Schluss auf einen breiten Konsens, zumindest der Elite, mit seinen Maßnahmen zur Austrocknung islamischer Einrichtungen und zum Aufbau eines westlichen Schul- und Hochschulsystems.
Prof. Dr. Klaus Kreiser
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Ende.
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