Die Frage der ukrainischen Identität ist nicht über ein Verbot oder Nicht-Verbot von Sprache zu illustrieren, sondern kann bestenfalls durch entsprechende Studien, wie Umfragen oder "Focus-Gruppen" herausgearbeitet werden. Kulik ist diesen Weg gegangen.
In der Phase nach 1990 setzte auch in der Ukraine der Prozess ein, einen Narrativ zu konstruieren, der durch die spezifische ukrainische Geschichte definiert war. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die sich auf so untereschiedliche Ereignisse wie den "Holodomor" oder "Helden" wie Bandera gruppieren.
Der Narrativ ist dabei, entsprechend der jeweiligen Sicht, heftig umstritten.
Dabei ist auch die Frage der Konstituierung des "Nationalgefühls" ein Ukrainer zu sein einem Wandel bzw. dem Versuch ihn zu redefinieren, unterworfen. Als rivalisierende Konzepte, die in den Studien nachgezeichnet werden können, war die Fundierung durch die Praxis der "Zivilgesellschaft" vorhanden und stand in Rivalität zu ethnographischen Definitionen der ukrainischen Identität.
Vor diesem Hintergrund referiert Kulyk die Ausgangslage:
"Actually, Shulman’s own comparative study of elite perceptions in two big Ukrainian cities, L’viv in the west
and Donets’k in the southeast, revealed that elites in each city view people in the other (or rather the region it belongs to) less than positively. Moreover, Donets’kites felt much better about Russians in Russia than about Ukrainians in western Ukraine, a clear indication of a weakness of civic national identity as a country-wide ‘sense of togetherness and belonging’ (Shulman 1999, p. 1015), which the new state’s institutions had yet to engender."
"By 2006, national identity clearly overshadowed subnational identities (Besters-Dilger 2009, p. 389). At the same time, differences between regional groups in their identity preferences became even more pronounced, with the salience of national identity decreasing rather consistently from west to southeast.6 In contrast, a longitudinal study of the post-Soviet identification processes in L’viv and Donets’k examined the salience of not only territorial identities but also those defined by other characteristics such as gender, religion, occupation and ideology. It revealed that the (rather ambiguous) identity as ‘a Ukrainian’ was one of the most salient in both cities but it mattered much more in the former than in the latter. While L’vivites consistently manifested it as much more salient than any other identity except for the local one, in Donets’k Ukrainian identity was much less pronounced than local identity and roughly equal in salience to those defined by gender and social status (Hrytsak 2007)."
Diese Beschreibung macht deutlich, dass unterschiedliche historische Bezüge die regionale Ausformung von unterschiedlichen Formen der "ukrainischen nationalität begünstigt haben:
"..while Donets’k residents supported primarily those phenomena featured in the East Slavic narrative which views Ukrainians as closely linked to Russians"
Die Intervention der Russen auf der Krim und dem Donbas führte auf der einen Seite zu einer verstärkten Mobilisierung der pro-westlichen ukrainischen Identität und auf der anderen Seite zu einer Polarisierung im Südosten. Und bedeutete, dass die Zuwendung der westlichen Ukraine in Richtung der EU weniger eine Begeisterung für die westlliche Wertegemeinschaft war, sondern vor allem eine deutliche Ablehnung der russischen Hegemonie.
"Similarly, while Russia justified its intervention in the Crimea and Donbas by its concern for the Russian speakers of those and adjacent regions, many members of different linguistic and regional groups viewed it as aggression against the entire Ukrainian people who, accordingly, must unite, resist and make an alliance with the West (Kulyk 2014a; Onuch 2015)."
Im Ergebnis kommt Kulyk zu folgender Einschätzung
"Although popular perceptions are by no means uniform across the country, the main dividing line has shifted eastwards and now lies between the Donbas and the adjacent east-southern regions."
Im Westen und in der Mitte hat man einen anderen Bezugpunkt, um seine ukrainische Identität zu definieren. Im Südosten ist auch eine ukrainische Identität vorhanden, die aber den engen Bezug zur Entwicklung in Russland herstellt. Und an diesem Punkt setzt u.a auch die selektive Wahrnehmung der Ukraine durch Putin an. Er blendet die Eigenständigkeit der Entwicklung im Westen und in der Mitte aus und verabsolutiert die ukrainische Identität im Südosten als die aus rusicher Sicht maßgebliche.
An diesem Punkt kann man erkennen, wenn man möchte, dass es bei dem Krieg in der Ost-Ukraine auch um die Machtposition von Russland geht. Über Gebiete ließe sich in diesem Kontext leichter verhandeln. Es geht allerdings auch darum, dass es im Südosten Ukrainer gibt, die eine Identität aufweisen, die nicht ohne weiteres kompatibel ist zu der Sicht in der restlichen, westlichen Ukraine.
Kann man zur Kenntnis nehmen, muss man nicht. Und hat dann die Chance auf viele weitere Jahre eines latenten Bürgerkriegs. Eine Lösung kann wohl nur erfolgen, wenn man die legitimen Interessen der jeweiligen Bevölkerung zum Ausgangspunkt macht. Und nicht die politischen Interessen der jeweiligen Machthaber.
Kulyk, Volodymyr (2019): National Identity in Ukraine: Impact of Euromaidan and the War. In: Derek Averre, Wolczuk und Kataryna (Hg.): The Ukraine Conflict. Security, identity and politics in the wider europe. London: Routledge