Der russische Botschafter in Paris Iswolski informierte seinen Außenminister Sasonow über ein Gespräch mit dem französischen Ministerpräsidenten Poincare unter dem Datum des 12.September 1912 folgendes mit: [...]
Na, wenn das kein Blankoscheck ist.
Die Russen wussten doch genau um die deutschen Verpflichtungen gegenüber Österreich-Ungarn, denn diese hat Bismarck im Zuge der Verhandlungen zum Rückversicherungsvertrag in Petersburg mitteilen lassen. Und insofern kann durchaus von einer aggressiveren französischen Außenpolitik gesprochen werden. Das ist doch eine klare Ansage des französischen Ministerpräsidenten und ich vermag hier nicht eine Abschreckungsstrategie, genauso wenig wie in der Julikrise, zu erkennen.
1. Eskalation und Ausweitung frz. Bündnispflichten im Juli 1914?
Diese nun von Dir vorgetragene Argumentation bestätigt zunächst einmal die Auffassung von Kennan und anderen, dass in der Juli-Krise 1914 während des Poincare-Besuchs
keine materielle "Erweiterung" oder Modifizierung des frz.-russ. Beistandsabkommens abgegeben worden ist. Nach Deiner Argumentationsführung wird nunmehr eine solche Erweiterung oder Modifikation in Form des "Blankoschecks" FRA-RUS bereits um 2 Jahre vorverlegt und in das Jahr 1912 datiert.
2. Abschreckungsstrategie?
Anhand der Literatur ist im Forum breit diskutiert worden, was die krisen-diplomatische Ausgangslage für die Petersburger Gespräche gewesen ist:
a) Kenntnis vom bevorstehenden Ultimatum ÖU
b) herrschende Vermutung, dieses würde unannehmbar ausfallen
c) Ausgangspunkt: ÖU werde versuchen, einen Krieg zur Liquidierung Serbiens zu führen
d) diese Kriegsabsichten werden durch ein deutsches "backing" begünstigt und überhaupt erst möglich gemacht.
e) ein deutsches "backing" der ÖU-Kriegsabsichten werde durch eine abschreckende Haltung verhindert, die auf Grundlage der Beistandsabkommen erfolgt. DEU werde nicht den Großen Europäischen Krieg riskieren, wenn die Haltung der übrigen Großmächte dem gegenüber "fest" sein werde.
http://www.geschichtsforum.de/f62/k...d-russlands-vom-deutschen-blankoscheck-48521/
So wurde verfahren, Ziel war es, das Losschlagen ÖUs mit Einsetzen der Bündnismechansimen zu verhindern. Eine klassische Abschreckungsstrategie, wie vielfach in der Weltgeschichte exerziert. Ein frz. "backing" russischer "Präventivkriegsabsichten" war nicht Gegenstand des Kalküls, und die diplomatische Korrespondenz, die Dir ja bekannt ist, belegt die Unsicherheit Frankreichs darüber, die Unterstützung Russlands nur dann vornehmen zu können, wenn der Rückhalt Englands für diese Strategie gesichert sei. Allen Beteiligten war klar, dass diese Grundbedingung und Annahme zum Zeitpunkt des Petersburg-Besuches und Tage danach nicht gegeben war.
3. Zum Beistandsabkommen Stand 1912 auf Basis des von Dir zitierten Schriftwechsels.
Das Verständnis des kurzen Zitats wird nur aus dem Kontext ersichtlich. Dafür ist zunächst mal das Zitats "aufzubohren" und vollständig vorzutragen, um sich darüber klar zu werden, was hier eigentlich materiell angesprochen ist:
"Ferner sagte mir H. Poincare, dass nach seinen Informationen Österreich-Ungarn ... keinesfalls im Sandschak vordringen, wohl aber je nach dem Gang der Ereignisse sich gegen Serbien wenden werde. Das könne selbstverständlich nicht Russland gleichgültig lassen, und werde wahrscheinlich zu einem allgemeinen Kriege führen. ...
[Poincare zeichnet ein düsteres Bild der Krise mit der Gefahr eines sich ausweitenden Balkankrieges. Auslöser wird ein ÖU-Präventivkrieg gegen Serbien zwecks Beseitigung sein. Dieses entspricht nahezu der Lage im Juli 1914]
Auf meine Frage, ob er keinen Plan zur Verhütung all dieser Gefahren habe, antwortete mir H. Poincare, er sei außerstande, irgend etwas vorzuschlagen.... Die Ratschläge zur Mäßigung an die Balkanstaaten könnten kaum einen entscheidenden Einfluss ausüben.
Wenn trotz all dieser Ratschläge ein Balkankrieg ausbrechen würde, müsste so schnell wie möglich mit einem Vermittlungsvorschlag eingegriffen werden, und
dabei würde es von großer Wichtigkeit sein, nicht das Terrain der allgemeinen europäischen Politik zu verlassen, und nach Möglichkeit jede Einzelintervention verhindern ....
[Poincare sieht hier klar die Eskalationsmöglichkeiten, wenn Einzelinterventionen die Bündnisketten in fataler Weise auslösen. Das ist krisenstrategisch das genaue Gegenteil von Blankoscheck]
Abschließend erklärte mir H. Poincare, die französische Regierung prüfe aufs ernsteste die Frage aller denkbaren internationalen
Eventualitäten. Er gebe sich vollste Rechenschaft darüber, dass ... ein Angriff Österreich-Unganrns auf Serbien Russland zwingen könnte, seine passiv Rolle aufzugeben und zunächst seine Zuflucht zu einer diplomatischen Aktion und dann zu einer militärischen Intervention gegen die Türkei oder Österreich zu nehmen.
[Immer noch steht die Diplomatie vor dem Krieg als letztes Mittel - diplomatenseitig der übliche Vorbehalt gegen einen Automatismus]
Gemäß den Erklärungen, die wir von der französischen Regierung erhalten haben, ist uns bei einem derartigen Fall die aufrichtigste und energischste
diplomatische Unterstützung sicher.
[bis dato: keine Rede vom frz. Blankoscheck militärischer Unterstützung. Der Kontext wird jetzt mit dem folgenden glasklar:]
Aber
in dieser Phase der Ereignisse würde die Regierung der Republik nicht in der Lage sein, ... die für irgendwelche aktiven militärischen Maßnahmen notwendige Billigung zu erhalten.
Wenn aber der Konflikt mit Russland ein bewaffnetes Eingreifen Deutschlands nach sich ziehen würde, so erkenne die französische Regierung dies im voraus als casus foederis an und würde nicht einen Augenblick zögern, die Verpflichtungen, die sie Russland gegenüber auf sich
genommen hat, [sic!] zu erfüllen. Frankreich, setzte H. Poincare hinzu, ist unstreitig durchaus friedlich gesinnt, und wünscht oder sucht keinen Krieg, aber das Eingreifen Deutschlands gegen Russland würde sofort die Gesinnung ändern, und es ist als sicher anzunehmen, dass das Parlament ...
in einem solchen Fall den Entschluss der Regierung, Russland eine bewaffnete Unterstützung zu gewähren, voll billigen würde."
Was Poincare hier garantiert, ist der Erhalt der "französischen Lebensversicherung" gegen den deutschen Versuch, einen Krieg ÖU/RUS zur präventiven militärischen Schwächung des Gegners Russland auszunutzen. Er stellt damit klar, dass man einer Beseitigung des frz. Bündnispartners nicht tatenlos zusehen werde und könne.
[exakt von diesem Szenario ging die deutsche Diplomatie stets in gleicher Weise aus, weswegen beim Fall "Krieg mit Russland" nach Schlieffen-Moltke-Planung der Haupt- und Erstschlag sofort gegen Frankreich erfolgen müsse.] Gleichzeitig betont er diplomatische Lösung und stellt klar, dass Russland bei einem isolierten Balkankrieg mit ÖU keinerlei Unterstützung erwarten könne.
Zum Vergleich Dein verkürztes Briefzitat:
"Sollte Russland eine militärische Intervention gegen Österreich-Ungarn einleiten müssen und sollte dies wiederum eine Intervention durch Deutschland nach sich ziehen, so erkenne die französische Regierung dies im Voraus als casus foederis an und würde nicht einen Augenblick zögern, die Verpflichtungen, die sie Russland gegenüber auf sich genommen hat zu erfüllen."
Ergo ist auch dieses kein "Blankoscheck" (so wie das auch die Literatur darstellt):
1. es geht hier um einen
deutschen Präventivkrieg gegen Russland
2. betont wird, dass eine diplomatische Lösung erfolgen müsse
3. Einzelinterventionen werden abgelehnt
4. Russland wird keine militärische Unterstützung bei einem Balkankrieg erhalten
5. Russland wird - gemäß dem Jahrzehnte bestehenden Abkommen, Unterstützung
bei einem deutschen Angriff bekommen, da sonst die frz. Rückversicherung gegen eine potenzielle deutsche Hegemonie auf dem Kontinent in Gefahr gerät.