Wie prüde waren die 1950er Jahre?

Anstelle einer Antwort hier ein (langer) Artikel des Spiegels aus dem Jahr 1968: Was für Zeiten

Ein Sittenbild der Endsechzigerjahre, mit Rückblicken in die Vergangenheit und vagen Voraussagen für die Zukunft – es ist für jeden etwas dabei. Und, soviel Zeit muss sein, die christlichen Kirchen kommt nicht gut weg. ;)
 
Zum Thema, was in 1950er Jahren erlaubt und was nicht erlaubt war – Zitat:

In den 1930er Jahren kam die weite Marlene-Hose auf, sie wurde nur von einigen Künstlerinnen getragen. Im Zweiten Weltkrieg wurden wiederum arbeitende Frauen in Hosen akzeptiert. Der „Rockzwang“ war nach 1945 jedoch nicht vorbei: Viele Schulen erlaubten Mädchen bis in die 1960er Jahre hinein allenfalls im Winter, Hosen zu tragen. An katholischen Mädchenschulen hielten sich Kleiderordnungen noch länger. Erst Ende der 1960er Jahre wurden Frauenhosen gesellschaftlich akzeptiert und der Hosenanzug für Damen kam in Mode. Als „anständig“ galt diese Kleidung in gehobenen Kreisen deshalb jedoch noch nicht.
(…)
Der damalige Bundestagsvizepräsident Richard Jaeger (CSU) drohte 1970, er werde jede Abgeordnete, die es wagen sollte, in Hosen zur Plenarsitzung zu erscheinen, aus dem Saal weisen. Noch im selben Jahr rührte Lenelotte von Bothmer (SPD) an dieses Tabu, erschien erstmals am 15. April in einem Hosenanzug im Bundestag, und am 14. Oktober 1970 hielt sie als erste Frau mit Hose eine Rede im Bundestag.[11]


Und zu meiner Beobachtung, dass wir seit den 1980er Jahren wieder Richtung mehr Kontrolle und Zwang gehen, hier 2 Beispiele:

1. In Russland wird schon jetzt jede positive Äußerung in Richtung LGBT als Propaganda betrachtet und bestraft. Und nun reden Duma-Abgeordnete davon, potenzielle Staatsbedienstete vor der Übernahme in den Staatsdienst auf Homosexualität zu überprüfen.

2. Und in England hat the “minister for common sense” (also Ministerin für gesunden Menschenverstand), Esther McVey, verkündet, dass sie u.a. das Tragen von Regenbogen-Schlüsselbändern für öffentliche Bedienstete verbieten wird, weil das eine politische Äußerung sei, die im Dienst nichts zu suchen hätte.
 
[...] wir seit den 1980er Jahren wieder Richtung mehr Kontrolle und Zwang gehen, hier 2 Beispiele:

1. In Russland wird schon jetzt [...]
Diese Beweisführung ist in der Formulierung als Beleg für "unsere" Prüderie recht, öhm, speziell.

Und dass die antiwoke Dame von dem Inselland mit der besonders exzentrischen Spatzenpolitik erstens "nur" die sogenannte (!) "Ministerin für den gesunden Menschenverstand" ist - tatsächlich ist sie, wie Deinem Link zu entnehmen ist, Ministerin ohne Portfolio, und sie zweitens das antiwoke als Hauptaufgabe von ihrem Chef mitbekommen hat, um den rechten Rand der Tories über die Entlassung von Suella Bravermann hinwegzutrösten, macht sie doch als Sprachrohr des konservativen Randes einer konservativen Partei doch einigermaßen befangen.

M.E. sind beide Beispiele nicht aussagekräftig für "uns". (Gute Güte, als nächstes kommt noch ein Zitat von Söder als Beleg für irgendwas. ; )
 
Also, @Neddy, wer sich ein bisschen in der Geschichte auskennt, der weiß, dass sich Dinge wie Moral, Kleidung etc. in den zu einer bestimmten Kultur gehörenden Ländern über kurz oder lang angleichen.

Beispiel: Wir reden zwar vom Viktorianischen Zeitalter, aber die Regeln, die in dem Zeitalter gültig waren, galten in der ganzen christlichen Welt, d.h. auch in Europa, was Russland einschließt, und in Nord-, Mittel- und Südamerika, etc.

Jetzt Russland nicht zur christlichen Welt - also zu "wir" - zählen zu wollen, weil diktatorisch regiert, ist ein wenig sonderbar; übrigens, noch vor einem Jahr hatte Polen in Bezug auf LGBT eine ähnliche Position vertreten wie z.B. Russland oder Ungarn.

Und die besagte britische Ministerin vertritt die offizielle Position der Regierung, deswegen kann man sie nicht als Sonderling abtun.

Und was Söder sagt, ist auch offiziell, schließlich ist er Ministerpräsident eines Bundeslandes, mit Stimme im Bundesrat, einem Verfassungsorgan, das Gesetze verabschiedet oder auch nicht.
 
Also, @Neddy, wer sich ein bisschen in der Geschichte auskennt

Freund Dion, es gibt hier im Forum einige, die so ein paar rudimentäre Geschichtskenntnisse besitzen.
Und die widersprechen dir bei deinen speziellen Themen regelmäßig mehr oder weniger en bloc.

Sind das alles verwirrte Geisterfahrer mit Null Ahnung? Oder könnte es daran liegen, dass sie dir in der Regel en bloc widersprechen, weil sie über ein gewisses Maß an soliden Kenntnissen verfügen?
Und wenn ja, was sagt dass dann über deine Kenntnisse und Methodik so aus?
 
;) :D :D :D Also, @Neddy, wer sich ein bisschen in der Geschichte auskennt, der weiß, dass sich Dinge wie Moral, Kleidung etc. in den zu einer bestimmten Kultur gehörenden Ländern über kurz oder lang angleichen.
Demzufolge hätten jene Flamencotänzerinnen, denen verlottertes Künstlerpack wie Albeniz und de Falla iberische Rhythmen ablauschten, mit Cul de Paris umherhupfen müssen, die Effi ebenfalls, auch die russische Anna - merde... nicht mal Kastagnetten finden sich bei Bovary, Briest, Karenina, vom Cul de Paris zu schweigen...
...Paris...das war doch das Exil vom Heine... wie war das gleich? "Alles wird simplifiziert"
 
Eine Ausnahme ("Flamencotänzerinnen") wird generalisiert
Wieder was gelernt!
Ich generalisiere also, indem ich Flamencotänzerinnen (2.Hälfte 19.Jh.) als Ausnahme, Effie Briest, Emma Bovary und Anna Karenina - also allen genannten Damen - attestiere, nicht mit Cul de Paris gewandet umherzuhupfen, was sie eigentlich tun müssten, wenn die von Dero Allwissenheit @Dion aufgestellte Regel über die Internationalität von regionaler Mode immer und überall gelten würde:
wer sich ein bisschen in der Geschichte auskennt, der weiß, dass sich Dinge wie Moral, Kleidung etc. in den zu einer bestimmten Kultur gehörenden Ländern über kurz oder lang angleichen.
...sieht wohl eher so aus, als sei die vermeintliche Regel einfach nur Mumpitz...
 
Zuletzt bearbeitet:
Diese Beweisführung ist in der Formulierung als Beleg für "unsere" Prüderie recht, öhm, speziell.
Sie ist schlichtweg unzulässig.
Also, @Neddy, wer sich ein bisschen in der Geschichte auskennt, der weiß, dass sich Dinge wie Moral, Kleidung etc. in den zu einer bestimmten Kultur gehörenden Ländern über kurz oder lang angleichen.

Beispiel: Wir reden zwar vom Viktorianischen Zeitalter, aber die Regeln, die in dem Zeitalter gültig waren, galten in der ganzen christlichen Welt, d.h. auch in Europa, was Russland einschließt, und in Nord-, Mittel- und Südamerika, etc.
Unterschiedslos? Wirklich? Warum hatte dann z.B. die Frau im viktorianischen England eine andere Rechtsstellung als ihre deutsche Geschlechtsgenossin? Warum zog Paris Libertins aus ganz Europa an, wenn sie dort doch die gleichen Regeln vorfanden wie sonst auch?

Und deswegen ist diese Beweisführung unzulässig. Sie vergleicht, was nicht gleich ist.
Jetzt Russland nicht zur christlichen Welt - also zu "wir" - zählen zu wollen, weil diktatorisch regiert, ist ein wenig sonderbar;
Russland hat in dieser Aufzählung gerade deshalb nichts zu suchen, weil es diktatorisch regiert ist. Wir können nicht unterscheiden, ob soziale Normen von einer Minderheit aufoktroyiert oder tatsächlich von der Bevölkerung gefordert und vorgelebt werden. Was für die Fragestellung jedoch entscheidend wäre. Man könnte nicht ein ganzes Volk oder ein ganzes Jahrzehnt als prüde bezeichnen, wenn die Mehrheit anders handelte.

In Russland gibt es deutliche Anzeichen für Ersteres. Denn mit dem wachsenden Wohlstand liberalisierte es sich in den 2000ern auch gesellschaftlich, wie man es von einer reicher werdenden Gesellschaft erwarten konnte. Damals konnten sich die Tatu-Sängerinnen noch auf der Bühne küssen, und es hat Putin nicht gehindert, ihnen nach dem Konzert die Hand zu reichen; und auf das Geifern das Patriarchen hat niemand etwas gegeben. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die russische Gesellschaft binnen weniger Jahre derart radikalisierte, wie sie es jetzt ist. Also war sie entweder immer schon latent so wie jetzt, oder die Normen werden eben wieder mal von Moskau vorgegeben.
Und die besagte britische Ministerin vertritt die offizielle Position der Regierung, deswegen kann man sie nicht als Sonderling abtun.
Die besagte britische Ministerin verkauft ihre Politik in der genannten Sache als Mittel zur Gewährleistung der weltanschaulichen Neutralität im Staatsdienst. Ihre Motivation mag eine andere sein, aber mit Prüderie hat das eigentlich nichts zu tun. Sie hat ja nicht den Frauen die hochhackigen Schuhe und tief ausgeschnittenen Blusen verbieten wollen, sondern nur ein Symbol, das auch von denen, die es tragen, mehrheitlich als politisches Bekenntnis verstanden und getragen wird.
 
Mit der Angleichung von Moral und Kleidung in der christlichen Welt meinte ich eben das: Schaut man sich die Bilder aus dem Viktorianischen Zeitalter in England, Deutschland, USA oder Argentinien an, wird man feststellen, dass die Menschen überall, wenn nicht ganz gleich, so doch ziemlich ähnlich angezogen sind – abgesehen natürlich von den Altsiedlern, die, obwohl christianisiert, nicht alles aus Europa übernommen haben, sondern nur einzelne Kleidungsstücke, die sie in ihre Tracht inkorporierten, wenn überhaupt.

Und was die Moral betrifft, also was sich für einzelne Mitglieder der Gesellschaft schickte, und was ein NoGo war, das war auch überall gleich – dafür sorgten die Kirchen über das priesterliche Transmissionsriemen in Sonntagspredigten. So wurde z.B. Wiener Walzer anfangs als unzüchtig bezeichnet, später auch Tänze, die aus Übersee (Nord- und Südamerika) stammen. Auch der Hüftschwung Elvis Presleys war in den 1950er Jahren anfangs ein Skandal. Und warum diese Tänze um Tänze? Weil schon Kirchenväter sagten: Tänze sind des Teufels, weil heidnischen Ursprungs. Ja, welchen denn sonst?

Wir haben schon in diesem Forum darüber gesprochen, dass nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern schon viel früher, d.h. im Mittelalter die Mode aus Paris bzw. Frankreich kam. Warum? Keine Ahnung - vielleicht durch Troubadoure vermittelt? Jedenfalls kann man auf den mittelalterlichen Bildern aus verschiedenen Ländern Europas erkennen, dass die Menschen durch die Bank gleiche Frisuren tragen und gleich gekleidet sind, und dass sich diese Kleidung im Laufe der Zeit überall änderte.

Auch in Bezug auf die Sitten in Paris - oder vielmehr auf die dortige "Sittenlosigkeit" – ist eine Antwort schwer. Eine wäre: Es gibt seit den Revolutionstagen eine Trennung von Staat und Kirche, seit 1905 eine sehr starke. Und wo die Kirche mit ihrer panischen Angst vor Nacktheit nichts zu sagen hat, da blüht eben solche; schon Tertullian geißelt das gemeinsame Baden von Männern und Frauen, ebenso Cyprian von Karthago – er sagt (zu Frauen): "Selbst wenn du dein eigenes Auge nicht befleckst durch die unreine Lust, aber indem du anderen Anlass bietest zu solcher Lust, wirst du selbst befleckst."

Und wenn ich sage, moralische Einstellungen gleichen sich in einem Kulturraum mit der Zeit, so meine ich z.B. auch das: Als ein reines Mädchenorchester aus Venedig nach Deutschland kam, stiegen (männliche) Zuschauer auf die Stühle, um sie besser zu sehen. Warum? Sie spielten auch Cellos, und dazu war es notwendig, Beine zu spreizen. Das war in Deutschland bis dahin unerhört, im Venedig aber offenbar ganz normal. Ich habe schon angedeutet, warum.
Jedenfalls durften bald danach auch deutsche Musikerinnen Cello spielen – und auch da stiegen die Herren auf die Stühle. Zunächst jedenfalls. :D
 
Jedenfalls kann man auf den mittelalterlichen Bildern aus verschiedenen Ländern Europas erkennen, dass die Menschen durch die Bank gleiche Frisuren tragen und gleich gekleidet sind, und dass sich diese Kleidung im Laufe der Zeit überall änderte.
Du meinst, dass sämtliche bildlichen Darstellungen, die aus etlichen Jahrhunderten erhalten/überliefert sind, gleichsam der Ersatz für Fotorealismus sind? Stilisierungen etc gab es nicht? Das ist eine interessante Praesupposition, denn sie attestiert aller bildlichen Kunst nichts geringeres als Realismus. ...wenn ich das nun ganz streng übernehme, dann müsste ich die "Mode" der adipösen Rubens'schen Nackedeis für realistisch halten... ;) :D:D
...wenn ich das bedenke, kommt mir ein Verb in den Sinn, welches mit dem Adjektiv simpel zu tun hat...
 
Stilisierungen etc gab es nicht?
Selbstverständlich gab es Stile. Es gibt ein Malereistil und ein Stil sich zu kleiden, zu frisieren. Aber wenn die meisten Bilder eines Jahrhunderts, Frauen aus weit entfernten Orten in ähnlicher Aufmachung zeigen, im nächsten Jahrhundert aber anders, aber auch wieder ähnlich zueinander aussehen, dann heißt das, dieses und jenes war zu einer Zeit in – und zu einer anderen Zeit out.

Beispiel: Hennin – „war in fast ganz Europa zwischen 1385 und 1483 eine Haube für Frauen in spitzer oder stumpfer Kegelform.“ Das hatte nichts mit Malereistil in der Zeit zu tun.
 
Mit der Angleichung von Moral und Kleidung in der christlichen Welt meinte ich eben das: Schaut man sich die Bilder aus dem Viktorianischen Zeitalter in England, Deutschland, USA oder Argentinien an, wird man feststellen, dass die Menschen überall, wenn nicht ganz gleich, so doch ziemlich ähnlich angezogen sind – abgesehen natürlich von den Altsiedlern, die, obwohl christianisiert, nicht alles aus Europa übernommen haben, sondern nur einzelne Kleidungsstücke, die sie in ihre Tracht inkorporierten, wenn überhaupt.
Im 19. Jahrhundert erfinden sich die Nationalbewegungen aller Orten ihre, in der Regel historisch so nicht überlieferten "Nationaltrachten". In dieser Hinsicht dürfte kaum eine dem vorangegangene Zeit so bunt und modisch differenziert gewesen sein, wie das 19. Jahrhundert.

Die Vorstellung, dass die Moral überall gleich oder ähnlich gewesen wäre, die haut so auch nicht hin.
Um 1850 galt jemand in den Südstaaten der USA, der sich Sklaven hielt, als respektabler Gentleman. In weiten Teilen Europas hätte derjenig, der das zu diesem Zeitraum getan hätte als mieser Verbrecher gegolten.

Um nur ein Beispiel zu nennen.
Man könnte das weiter ausführen.
 
Mit der Angleichung von Moral und Kleidung in der christlichen Welt meinte ich eben das: Schaut man sich die Bilder aus dem Viktorianischen Zeitalter in England, Deutschland, USA oder Argentinien an, wird man feststellen, dass die Menschen überall, wenn nicht ganz gleich, so doch ziemlich ähnlich angezogen sind – abgesehen natürlich von den Altsiedlern, die, obwohl christianisiert, nicht alles aus Europa übernommen haben, sondern nur einzelne Kleidungsstücke, die sie in ihre Tracht inkorporierten, wenn überhaupt.
Und wenn Du Dich heute in Städten wie Washington, Tokio, Moskau oder Ankara umschaust, wirst Du überall Männer sehen, die Anzug und Krawatte tragen, und dennoch unterschiedlichen Moralvorstellungen unterliegen. Allenfalls die Extreme einer Mode lassen sich zur Definition gesellschaftlicher Normen heranziehen, nicht aber Moden an sich.
Und was die Moral betrifft, also was sich für einzelne Mitglieder der Gesellschaft schickte, und was ein NoGo war, das war auch überall gleich – dafür sorgten die Kirchen über das priesterliche Transmissionsriemen in Sonntagspredigten. So wurde z.B. Wiener Walzer anfangs als unzüchtig bezeichnet, später auch Tänze, die aus Übersee (Nord- und Südamerika) stammen. Auch der Hüftschwung Elvis Presleys war in den 1950er Jahren anfangs ein Skandal. Und warum diese Tänze um Tänze? Weil schon Kirchenväter sagten: Tänze sind des Teufels, weil heidnischen Ursprungs. Ja, welchen denn sonst?
Beziehst Du Dich jetzt auf das Deutschland der 1950er? Denn nur in diesem sehr begrenzten Rahmen kann diese Aussage überhaupt stimmen. Es herrschte selbstverständlich nicht überall dieselbe Moral; nicht im viktorianischen Zeitalter, nicht 1950, und schon gar nicht gab überall die Kirche vor, was tabu war. In einigen Ländern (wie Skandinavien, England, USA) war sie mangels Akzeptanz bzw. Strukturen dazu überhaupt nicht in der Lage.
Wir haben schon in diesem Forum darüber gesprochen, dass nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern schon viel früher, d.h. im Mittelalter die Mode aus Paris bzw. Frankreich kam. Warum? Keine Ahnung - vielleicht durch Troubadoure vermittelt? Jedenfalls kann man auf den mittelalterlichen Bildern aus verschiedenen Ländern Europas erkennen, dass die Menschen durch die Bank gleiche Frisuren tragen und gleich gekleidet sind, und dass sich diese Kleidung im Laufe der Zeit überall änderte.
Bis weit ins Hochmittelalter hinein dürfte im Europa westlich der Oder und südlich des Skagerrak das fränkisch-römische Erbe die Mode bestimmt haben. Es gab in jener Zeit wenig Veränderung, und eigentlich keine Mode im heutigen Sinne, d.h. regelmäßig wechselnde Vorlieben.

Wirkliche Modewellen traten erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der zunehmenden Verflechtung im Spätmittelalter auf den Plan, ausgehend von den Zentren der Tuchproduktion wie Flandern und Florenz, deren Rolle später vor allem auf den burgundischen Hof überging, bald ein Inbegriff der höfischen Kultur, dessen Sitten man gern kopierte. Dass aber der schlesische Starost und der Kölner Kaufmann den gleichen Chaperon und die gleiche gezaddelte Schaube trugen wie der burgundische Ritter, heißt noch lange nicht, dass sie auch die gleichen Moralvorstellungen geteilt hätten. Im Gegenteil sind die Unterschiede erheblich, wie etwa jeweils an der rechtlichen Stellung der Frau sichtbar wird.

Ohnehin überschätzt Du meines Erachtens die Wirkmächtigkeit der Kirche in Fragen der Mode. Mittelalterliche Kleiderordnungen wurden von Stadträten erlassen, nicht von der Kirche, und waren letztlich Ausdruck dessen, was man heute eine kleinbürgerliche Spießermoral nennen würde.

Weiter unten erwähnst Du den Hennin – nun, etwa zeitgleich mit der Hochzeit des Hennin, unter Karl VII., erschien in Frankreich die kuriose Damenmode, eine oder gar beide Brüste unbedeckt zu lassen. Sie ging zurück auf Karls Mätresse Agnès Sorel, eine "Influencerin" ihrer Zeit. Der Erzbischof von Reims konnte zetern, was er wollte, noch nach Sorels Tod liefen modebewusste Damen jahrelang mit nacktem Busen umher.

Es war auch nicht die Kirche, die dem Treiben Einhalt gebot, sondern Karls Sohn Ludwig XI., der die Sorel und seinen Vater verabscheut hatte und das Festhalten an deren Sitten als persönlichen Affront auffasste. Was hingegen nicht passierte, ist, dass diese Mode außerhalb Frankreichs dauerhaft Fuß fassen konnte. Dort wurde sie als typisch gallischer Exzess verlacht.
Auch in Bezug auf die Sitten in Paris - oder vielmehr auf die dortige "Sittenlosigkeit" – ist eine Antwort schwer. Eine wäre: Es gibt seit den Revolutionstagen eine Trennung von Staat und Kirche, seit 1905 eine sehr starke. Und wo die Kirche mit ihrer panischen Angst vor Nacktheit nichts zu sagen hat, da blüht eben solche; schon Tertullian geißelt das gemeinsame Baden von Männern und Frauen, ebenso Cyprian von Karthago – er sagt (zu Frauen): "Selbst wenn du dein eigenes Auge nicht befleckst durch die unreine Lust, aber indem du anderen Anlass bietest zu solcher Lust, wirst du selbst befleckst."
Und warum hatte Paris schon vor der Revolution einen entsprechenden Ruf, als dort noch die defensores fidei catholicae, die Allerchristlichsten Könige von Frankreich, regierten? Die Trennung von Staat und Kirche erklärt weder die Mode der Sorel, noch die zeitgleich aufkommenden und bis ins 16. Jahrhundert hinein von Frauen getragenen Fenêtres d’enfer – dieses in der Tat vom Klerus stammende Etikett förderte ihre Beliebtheit eher, als ihr zu schaden –, noch die tief ausgeschnittenen Dekolletees des 18. Jahrhunderts, und, und, und.
Und wenn ich sage, moralische Einstellungen gleichen sich in einem Kulturraum mit der Zeit, so meine ich z.B. auch das: Als ein reines Mädchenorchester aus Venedig nach Deutschland kam, stiegen (männliche) Zuschauer auf die Stühle, um sie besser zu sehen. Warum? Sie spielten auch Cellos, und dazu war es notwendig, Beine zu spreizen. Das war in Deutschland bis dahin unerhört, im Venedig aber offenbar ganz normal. Ich habe schon angedeutet, warum.
Jedenfalls durften bald danach auch deutsche Musikerinnen Cello spielen – und auch da stiegen die Herren auf die Stühle. Zunächst jedenfalls. :D
Diese Angleichung der Sitten, die Du hier erblickst, sieht für mich nach einer normalen Liberalisierung aus.
 
Und wenn Du Dich heute in Städten wie Washington, Tokio, Moskau oder Ankara umschaust, wirst Du überall Männer sehen, die Anzug und Krawatte tragen, und dennoch unterschiedlichen Moralvorstellungen unterliegen.
Die westliche (christliche) Welt ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein Vorbild für alle anderen Länder – und das nicht nur in wirtschaftlichen Fragen, sondern auch in gesellschaftlichen. Bis dahin kleideten sich Menschen in Tokio und Ankara anders als in Europa. Doch Washington und Moskau glichen sich, denn die Europäisierung Russland hat schon Peter der Große vorangetrieben, was sich im 18. Jahrhundert mit der Katharina II. und der Übernahme der (westlichen) Aufklärungsideen fortsetzte.

Es herrschte selbstverständlich nicht überall dieselbe Moral; nicht im viktorianischen Zeitalter, nicht 1950, und schon gar nicht gab überall die Kirche vor, was tabu war. In einigen Ländern (wie Skandinavien, England, USA) war sie mangels Akzeptanz bzw. Strukturen dazu überhaupt nicht in der Lage.
Im Großen und Ganzen gab es schon die gleichen – nicht dieselben! – Moralvorstellungen. Und in Skandinavien, England und USA herrschten noch strikteren moralischen Vorstellungen der Lutheraner/Pietisten als in überwiegend katholisch geprägten Ländern; diese wirken in den USA bis heute nach.

Bis weit ins Hochmittelalter hinein dürfte im Europa westlich der Oder und südlich des Skagerrak das fränkisch-römische Erbe die Mode bestimmt haben. Es gab in jener Zeit wenig Veränderung, und eigentlich keine Mode im heutigen Sinne, d.h. regelmäßig wechselnde Vorlieben.
Widerspruch: Auch damals wechselte die Mode, allerdings nicht so schnell wie heute: Vergleiche bitte die Mode in der Romanik mit der in Gotik. Damals dauerte es halt, bis sich bis in die letzte Burg Europas herumsprach, was man in Paris oder Frankreich trug. Diese Rolle, die Rom in der Antike hatte, übernahm Paris im Mittelalter.

Dass aber der schlesische Starost und der Kölner Kaufmann den gleichen Chaperon und die gleiche gezaddelte Schaube trugen wie der burgundische Ritter, heißt noch lange nicht, dass sie auch die gleichen Moralvorstellungen geteilt hätten. Im Gegenteil sind die Unterschiede erheblich, wie etwa jeweils an der rechtlichen Stellung der Frau sichtbar wird.
Rechtliche Stellung der Frau hat nur wenig Einfluss darauf, ob eine Kleidung von der Gesellschaft als moralisch einwandfrei akzeptiert wird.
Beispiel: Diese
Naumburg-Uta.JPG

Bandage um den Kopf, Barbette genannt, wurde im Hochmittelalter in ganz Europa getragen – es galt als unschicklich, sie in der Öffentlichkeit zu lockern.

Ohnehin überschätzt Du meines Erachtens die Wirkmächtigkeit der Kirche in Fragen der Mode.
Dem wiederspricht dieses Zitat:

Das Fehlen von Kleidung oberhalb der Taille, sowohl für Frauen als auch für Männer, war in den traditionellen Kulturen Amerikas, Afrikas, Australiens und der pazifischen Inseln bis zur Ankunft der christlichen Missionare die Norm, und ist es noch in vielen indigenen Kulturen.

Weiter unten erwähnst Du den Hennin – nun, etwa zeitgleich mit der Hochzeit des Hennin, unter Karl VII., erschien in Frankreich die kuriose Damenmode, eine oder gar beide Brüste unbedeckt zu lassen. Sie ging zurück auf Karls Mätresse Agnès Sorel, eine "Influencerin" ihrer Zeit. Der Erzbischof von Reims konnte zetern, was er wollte, noch nach Sorels Tod liefen modebewusste Damen jahrelang mit nacktem Busen umher.
(…)
Was hingegen nicht passierte, ist, dass diese Mode außerhalb Frankreichs dauerhaft Fuß fassen konnte.
So viel ich bisher herausfinden konnte, hat Sorel nur die Mode in ihrem Einflussbereich, d.h. am Königshof beeinflusst – von einer Mode in ganz Frankreich kann keine Rede sein.

Von einer anderen (unanständigen) Mode kann man bei der sog. Schamkapsel sprechen, die für ein halbes Jahrhundert maßgeblich für Männermode in Europa war. Da hatte die Kirche oder die Kirchen mit ihren Protesten durchaus Erfolg.

Und warum hatte Paris schon vor der Revolution einen entsprechenden Ruf, als dort noch die defensores fidei catholicae, die Allerchristlichsten Könige von Frankreich, regierten?
Die von mir favorisierte Erklärung ist nach wie vor: Die Troubadoure hätten – sicher auf die entsprechenden Nachfragen der Damen – erzählt, was Frauen in anderen Ländern so tragen. Und als später der Hof des Ludwig des XIV. zum Vorbild in allen Fragen des Stils wurde, war es um die Mode geschehen: Nur was man in Paris trug, war modern. Das setzte sich unter Napoleon fort und ist bis heute geblieben, wenn auch inzwischen Mailand und New York an Bedeutung hinzugewonnen haben.

Hier ein Zitat aus Europäische Kleidermode:

Mit dem ausgehenden Mittelalter vollendet sich eine Revolution in der europäischen Kleidungsgeschichte, die bereits im Hochmittelalter eingesetzt hat. Die seit dieser Zeit sich entfaltende neue Mode der höfischen Eliten erzeugte mit ihrem körperbetonten Zuschnitt eine neue Sicht auf die Geschlechterkörper, eine neuartige Konzeption von Kleidermode sowie neue ästhetische Vorstellungen und veränderte Sensibilitäten. Über die höfische Dichtung werden diese Neuerungen an den europäischen Höfen bekannt gemacht.

Diese Angleichung der Sitten, die Du hier erblickst, sieht für mich nach einer normalen Liberalisierung aus.
Was ist Liberalisierung denn anderes als Zurückdrängung der konservativen Ansichten über Sitte und Moral, die gerade von Kirchen verteidigt wurden und werden.
 
Die westliche (christliche) Welt ist spätestens seit dem 19. Jahrhundert ein Vorbild für alle anderen Länder – und das nicht nur in wirtschaftlichen Fragen, sondern auch in gesellschaftlichen. Bis dahin kleideten sich Menschen in Tokio und Ankara anders als in Europa.
Demnach bist du der Meinung, dass etwa der Fez fest zur europäischen Mode gehörte? Halte ich für eine steile These.

Doch Washington und Moskau glichen sich, denn die Europäisierung Russland hat schon Peter der Große vorangetrieben, was sich im 18. Jahrhundert mit der Katharina II. und der Übernahme der (westlichen) Aufklärungsideen fortsetzte.
Ich draf dir an dieser Stelle Tolstojs "Anna Karenina" zur Lektüre ans Herz legen.
Einfach als zeitgenössische belletristische Beobachtung der sehr unterschiedlichen Verhältnisse allein in der Moskauer und der St. Petersburger Gesellschaft.
Vom westlichen Ausland nicht zu reden.

Ich rege auch an, was Russland betrifft, die Idenn die etwa Peter der Große so hatte, mitdenjenigen weit verbreiteten Anschauungen der Slawophilen aus dem 19. Jahrhundert zu vergleichen, da tun sich erhebliche Unterschiede auf.

Im Großen und Ganzen gab es schon die gleichen – nicht dieselben!
Sicher vorrausgesetzt, dass man sämtliche Formen und Inhalte ausblendet.

Und in Skandinavien, England und USA herrschten noch strikteren moralischen Vorstellungen der Lutheraner/Pietisten als in überwiegend katholisch geprägten Ländern; diese wirken in den USA bis heute nach.
Moralvorstellungen haben vor allem etwas mit der strukrurellen Entwickung einer Gesellschaft zu tun.
Und in diesem Zusammenhang ist es herzlich sinnlos irgendwas von allgemeingültigen Moralvorstellungen allein innerhalb einzelner Läder zu schwadronieren.

Die Moralvorstellungen in einer agrarisch geprägten Dorfgemeinde und die in einer zunehmend modernen Industriemetropole in ein und dem selben Land konnten und können sehr sehr verschieden ausfallen.

Verhaltensweisen und Anschauungen, die im Berlin oder London der 1890er Jahre als völlig normal galten, wären irgendwo auf dem platten Land selbstverständlich höchst argwöhnisch beäugt worden.
Das ein Großteil der extremischen Bewegungen des ausgehenden 19. und beginnendenn 20. Jahrhunderts besonders gern den angeblichen "Sittenverfall" in den Großstädten anprangerte und mit diesen Vorstellungen auf dem Land durchaus Zustimmung fanden, kommt ja nicht von ungefähr.

Widerspruch: Auch damals wechselte die Mode, allerdings nicht so schnell wie heute: Vergleiche bitte die Mode in der Romanik mit der in Gotik.
Romanik und Gotik sind keine bloßen Moden, sondern haben zunächstmal was mit Fähigkeiten zu tun.
Die Gotik setzte Bautechniken voraus, die die Romanik nicht kannte.

Damals dauerte es halt, bis sich bis in die letzte Burg Europas herumsprach

Ich weiß nicht wie du auf die Idee kommst Burgen mit irgendwelchen Modeerscheinungen in Zusammenhang zu bringen.
Burgen sind zunächst mal militärische Funktionsbauen, die sinnvoller Weise den lokalen Verhältnissen anzupassen waren:

- Wirtschaftliche Möglichkeiten der jejweiligen Burgherren (oder derer, die es werden wollten).
- Geographische und Landschaftliche Bewegbenheiten.
- Lokal vorhandene Ressourcen (Holz- und Gesteinsarten)
- Genauer Zweck der Burg (Grenzüberwachung, Gewinnung der Kontrolle über Land oder Wasserwege, Rückzugsort eines größeren Adligen oder anderer Zweck).
- Anpassung an die lokalen Kriegsbräuche und lokal gängigen Waffentypen, denen es zu begegnen galt.

Es wäre z.B. völlig witzlos gewesen sehr stark ausgebaute westeuropäische Burgentypen, die auf eine Ausinandersetzung mit eher infanterielastigen Gegnern und einem für die Möglichkeiten der Zeit teilweise ausgefeiltem Militäringenieurswesen, die auf lange Belagerungsperioden eingestellt waren, irgendwo in Osteuropa zu bauen, wo die Kriegsführung ganz anders funktionierte, weil die schon wegen der Auseinandersetzung mit den Reitervölkern am Rand Europas wesentlich kavallerielastiger war, während, zumal bei den relativ kleinen und in der Regel eher schwach befestigten Ortschaften dort Belagerungen und Belagerungstechnik eine sehr viel kleinere Rolle spielten.

Diese Rolle, die Rom in der Antike hatte, übernahm Paris im Mittelalter.
Wie du auf die Idee kommst, weiß ich nicht.
Sofern wir davon reden, was stilbildend für das restliche Europa war, waren das bis in 17. Jahrhundert hinein, eher Burgund (Mittelalter), die oberitalienischen Städte und die Niederlande (Brabant, Flandern, später auch Holland).

Und als später der Hof des Ludwig des XIV. zum Vorbild in allen Fragen des Stils wurde, war es um die Mode geschehen: Nur was man in Paris trug, war modern. Das setzte sich unter Napoleon fort und ist bis heute geblieben, wenn auch inzwischen Mailand und New York an Bedeutung hinzugewonnen haben.
Pardon?

Diverse Modeerscheinungen des 19. Jahrhunderts sind eigentlich weniger französisch, als englisch.
Das im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert Großbritannien in so einigen Fragen des Lebensstils den Rang ablief, kann man auch in anderen damit verwandten Bereichen z.B. dem Gartenbau beobachten, wo der "englische Garten" dem "französischen" doch weitgehed den Rang ablief.

Was ist Liberalisierung denn anderes als Zurückdrängung der konservativen Ansichten über Sitte und Moral, die gerade von Kirchen verteidigt wurden und werden.
Liberalisierung ist vor allem das Aufbrechen überommener Strukturen, die nicht zwangsläufig irgendwas mit Moral zu tun haben müssen.

Wenn z.B. die Wirtschaftsordnung der meisten europäischen Länder im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert dadurch liberalisiert wurde, das die überkommenen Zunftprivilegien fielen und Gewerbefreiheit an deren Stelle trat, etc. dann war das nicht in erster Linie eine frage der Moral, sondern eine Reaktion auf die veränderten materiellen Grundlagen der beginnden Industrialisierung, die nach völlig anderen Prinzipien funktionierte, als die vormoderne Agrargesellscht, oder gar die überkommene Feudalverfassung und die in das überommene Regelkorsett einfach nicht mehr passte.
Diese Ordnung wurde nicht liberalisiert, weil sie als moralisch anstößig empfunden worden wäre, sondern weil die alte Ordnung unter den neuen Verhältnissen schlicht und einfach nicht mehr richtig funktionierte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ein Großteil der extremischen Bewegungen des ausgehenden 19. und beginnendenn 20. Jahrhunderts besonders gern den angeblichen "Sittenverfall" in den Großstädten anprangerte
Wie der Wind in Trauerweiden
tönt des frommen Sängers Lied,
Wenn er auf die Lasterfreuden
In den großen Städten sieht.
Wilhelm Busch, die fromme Helene, 1872
:) unbedingt lesenswert!!!
 
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